Bessere Gesundheit

Was übergewichtige Menschen bewegt

Jeder kennt den Satz: „Dicke Menschen sind gesellig und lustig“ – oder – aus der Geschichte
entnommen „Lasst wohlbeleibte Männer um mich sein“ (W. Shakespeare, Julius Cäsar, Kapitel 3).
Wie aber steht es wirklich um „dicke Menschen“?

In den vergangenen 25 Jahren habe ich in meinem Diabeteszentrum intensiv mit übergewichtigen Menschen gearbeitet. Die Lebensgeschichten, die ich dabei kennenlernen durfte, haben meine Sicht auf das Problem Adipositas maßgeblich beeinflusst. Jenseits jeder Pathophysiologie und Evidenz liegen Welten, die ich in den vielen Gesprächen betreten durfte und die mein ärztliches Handeln verändert haben. All das, was ich über die vielen Jahre beobachten konnte, wird durch neue Erkenntnisse aus Hirnund Stressforschung bestätigt. Wer mehr darüber erfahren möchte, kann dies in meinem Buch „Ich bin dann mal dick – Mein Weg zu mehr Gelassenheit und Zufriedenheit trotz Übergewicht“ nachlesen.

Verstecktes Innenleben

Es braucht Zeit und Vertrauen, bis sich die Betroffenen in einer Adipositas- Gruppe öffnen und über ihr „Innenleben“ sprechen können – über all die Erlebnisse und Gefühle, die ihnen im Alltag begegnen. Übergewicht macht vielfach einsam, und das in den unterschiedlichsten Lebensbereichen: im Privatleben mit Familie, Partner und Freunden; in der Arbeitswelt mit Lehrern, Chefs, Vorgesetzten und Kollegen und auch in der Freizeit, zum Beispiel im Urlaub oder beim Sport. Grundsätzlich sind bei der Betrachtung des Themas Übergewicht auch geschlechtsspezifische Aspekte zu berücksichtigen. Während Männer durchaus „kräftig“ sein dürfen, sind Frauen sofort „fett“. Die heutige Idealvorstellung lautet: Je schlanker desto besser, jedoch ist dies nicht in jedem Fall gesünder, wie wir heute aus zahlreichen Studien wissen. Wenn das „Schlanksein“ mit einem Plus an viszeralem, also stoffwechselaktivem Fett auf Grund hoher Cortisolspiegel erkauft wird, so haben diese Personen ein höheres kardiovaskuläres Risiko als solche mit viel subkutanem Fett, deren Cortisolspiegel niedriger, ihr Körpergewicht jedoch größer ausfällt. Wir nennen dieses Phänomen „Gewichts-Paradoxon“.

Gedankenexperimente

Vielleicht können Sie beim Lesen der folgenden Zeilen nun einmal in den Körper eines dicken Menschen hineinschlüpfen und Ihr aktuelles Körpergewicht verdoppeln. Mit diesem Gedankenexperiment werden Sie besser verstehen, was immer wieder aufs Neue die Herausforderungen an dicke Menschen sind – und das 365 Tage im Jahr! Betrachten wir zunächst die Arbeitswelt. Hier verbringen Erwerbstätige die meiste Zeit. Das Äquivalent bei Kindern und Jugendlichen wären die Schule und der Ausbildungsplatz. Ist es nur ein Gefühl oder entspricht es den Tatsachen, dass dicke Menschen es hier schwerer haben? Mobbing am Arbeitsplatz, nicht vorhandene Chancengleichheit bei Einstellung, Beförderung oder Gehalt? Die Stressforschung hat sich mit all diesen Themen inzwischen auseinandergesetzt und es besteht kein Zweifel mehr: Schlanke verhalten sich gegenüber dicken Menschen unfairer und vertrauen ihnen weniger als ihren schlanken Gegenübern (Kubera et al. 2016). In meinen Augen stellen derartige Erkenntnisse eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar. Die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung hat es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, dicke Menschen in diesen Bereichen zu unterstützen. Der Blick hinter die Kulissen wird möglich, wenn wir dicken Menschen zuhören. Benachteiligung und Diskriminierung sind Tabuthemen, die unserer Gesellschaft nicht gut stehen. Es macht mich betroffen, wenn ich dann zum Beispiel erfahre, dass „der schlanke Bewerber mir vorgezogen wurde, obwohl er eine schlechtere Qualifikation hatte“. Warum erleben dicke Menschen Benachteiligung und Ausgrenzung, obwohl ihre Leistungsbereitschaft und Qualifikation ebenbürtig ist? Muss man, um Führungspositionen innehaben zu können, zwingend äußere Normen erfüllen? Schaut man auf die Führungsriege unseres Landes – Politiker, Firmenbosse, Führungskräfte großer Konzerne oder Idole in Film, Fernsehen und Sport, so sind diese – für jedermann sichtbar – selten schlank. Hören wir einem Betroffenen zu, und zwar einem jungen Mann, der sich an seine Schulzeit erinnert: „Im Alter von 12 Jahren wurde es immer schlimmer. Begriffe wie „Fettsack“, oder „Vielfraß“ musste ich täglich über mich ergehen lassen. Mitschüler nehmen in diesem Alter kein Blatt vor den Mund. Was auf den ersten Blick oder heute rückblickend für mich nicht mehr so dramatisch wirkt – damals war es für mich die Hölle.“

Ein langer Weg

Es liegt es auf der Hand, dass niemand freiwillig und gerne mit massivem Übergewicht durchs Leben geht. Doch es ist ein langer Weg dorthin, auf dem vor allem wir Ärzte die Möglichkeit hätten, Betroffene abzuholen und zu begleiten, so lange, bis sie ihre Schuldgefühle verlieren und ihr Selbstbewusstsein wieder wächst. Ratschläge, Kränkungen zu ignorieren, helfen nicht viel. Übergewichtige Menschen fühlen sich oft einsam und ausgeschlossen und diese Problematik fängt nicht selten in der Schulzeit an. Bereits in diesem frühen Lebensalter beginnen chronische Stressoren, wie Mobbing und Isolation, einzuwirken. Ein anderes Beispiel ist eine junge Frau, die als Lehrerin in einer Grundschule tätig ist. Sie berichtet: „Regelmäßig muss ich abschätzige Blicke des Kollegiums ertragen, wenn ich bei Geburtstagsfeiern oder anderen Festlichkeiten so wie alle anderen auch am Buffet ein Stück Kuchen oder ein Dessert hole – auch wenn ich auf die Hauptspeise verzichtet habe. Ich fühle mich dann den restlichen Tag schuldig, wieder einmal versagt zu haben. Deshalb esse ich inzwischen oft heimlich, weil ich dann wenigstens diese Blicke nicht ertragen muss.“ Essen in der Öffentlichkeit oder im Restaurant wird für dicke Menschen somit vom Genuss zum Spießrutenlauf. Irgendwann vermeiden sie folglich als eine Art Selbstschutz solche Gelegenheiten und isolieren sich dadurch im Laufe der Jahre immer mehr.

Heimliches Doppelleben

Vielleicht haben Sie sich ja schon einmal gefragt, warum Sie dicke Menschen selten essen sehen – das genau ist der Grund, sie essen heimlich. Darüber hinaus gibt es Lebensbereiche, die man gerne ausblendet, insbesondere dann wenn die Diskussionen in aller Öffentlichkeit ausgetragen werden. So zum Beispiel die Frage, wie Partnerschaften funktionieren, in denen nur einer „dick“ ist oder wie das Sexualleben dicker Menschen wohl aussieht. Es braucht viel Zeit und Vertrauen, bis dieser wichtige Einblick gelingt und es ist nicht die Neugier des Therapeuten, sondern die Dramatik des täglichen Lebens, die sich uns hier auftut. Eine meiner Patientinnen berichtete: „Nun habe ich endlich einen Partner gefunden, der auch im Freundeskreis und in der Öffentlichkeit meine Hand hält oder mich in den Arm nimmt. Bislang geschah dies nur hinter verschlossener Türe in unseren eigenen vier Wänden.“

Und weil wir gerade beim Thema Öffentlichkeit sind – wie würden Sie sich mit starkem Übergewicht fühlen, wenn Sie ins Schwimmbad gehen, im Flugzeug eine Gurtverlängerung benötigen, durch ein Drehkreuz nicht durchgehen können oder die Stühle in einem Lokal nicht passend sind? Dies geschieht auch in Arztpraxen, wo keine ausreichende Bestuhlung im Wartezimmer, keine ausreichende Körperwaage oder RR-Manschette in Übergröße vorhanden ist und dies mit dem Satz „Für unsere Waage sind Sie leider zu dick, da müssen Sie erst mal kräftig abnehmen“ kommentiert wird. Übergewicht ist sichtbar, die seelischen Probleme der Betroffenen sind es nicht. Auch wenn sie fröhlich und witzig auftreten, dahinter verbirgt sich nur allzu oft ein dunkles Loch. In einer Gesellschaft, die permanente Höchstleistung und Optimierung einfordert, haben sie gelernt, eine Fassade zu errichten, die sie abhärtet, um seelische Grausamkeiten nicht immer wieder einstecken zu müssen. Auf diese Weise entstehen Isolation und Einsamkeit.

Individuelle Hilfe

Ernährungsberatung und Bewegungsempfehlungen stehen im Vordergrund jeder Adipositas-Therapie. Jedoch sind Sätze wie „täglich eine halbe Stunde Sport“ für dicke Menschen nicht wirklich hilfreich weil völlig unrealistisch. Wir müssen endlich weg von den etablierten und völlig unrealistischen Zielvorgaben, wenn wir eine verständnisvolle Begleitung dicker Menschen erreichen wollen. Dies kann nach dem Motto „Jeder Schritt zählt und ist ein erster Schritt auf einem langen Weg“ geschehen. Schon wenige Minuten pro Tag sind ein guter Beginn. Was Psychologen und Psychotherapeuten bestens vertraut ist, müssen Allgemeinmediziner und Internisten lernen: die „Therapie der kleinen Schritte“. Das Fitnessstudio ist für einen dicken Menschen mit Schuldgefühlen, Hemmungen und Versagensängsten zu Beginn seiner Bewegungstherapie nur selten der richtige Ort. Es braucht viel Geduld, um ganz allmählich die Einsamkeit zu verlassen. So werden psychologische Begleitung und therapeutische Unterstützung zu den tragenden Säulen ärztlicher Intervention. Man kann es nicht besser formulieren als einer meiner Patienten, der über die Arbeit in meiner Adipositasgruppe seinen Weg wiedergefunden hatte und es folgendermaßen formulierte: „Der Entschluss, es nicht alleine schaffen zu müssen und in die Gruppe zu gehen war für mich die entscheidende Wende. Ich habe nun erkannt, dass Hilfe anzunehmen kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke ist“.