Unterschätzte Nachwirkung
Alkohol hat nicht nur eine berauschende Wirkung auf den Körper – Bier, Wein und Co. beeinflussen auch den Blutzuckerspiegel. Auch wenn alkoholische Getränke bei Diabetes nicht komplett verboten sind, sollten Sie ein paar Dinge beachten, um Unterzuckerungen vorzubeugen.
Die letzte Geburtstagsfeier wird Anika so schnell nicht vergessen, denn der Abend endete anders als erwartet. „Meine Freunde haben mich zum Essen mit Weinprobe eingeladen“, erzählt die 31-jährige Typ-1-Diabetikerin. „Etwa ein halbes Jahr zuvor wurde bei mir Diabetes festgestellt, weshalb ich mir nicht wirklich über die Risiken nach dem Alkoholgenuss bewusst war.“ Nach einigen Gläsern Wein wurde die Stimmung immer ausgelassener und Anikas Blutzuckerwerte stiegen zunächst an. Sie spritze sich wie gewohnt Korrekturinsulin und trank weiter. Zwei Stunden später bemerkte sie erste Unterzuckerungsanzeichen. „Ich fing an zu zittern und mir wurde schwindelig. Mein Blutzucker war auf 56 mg/dl (3,1 mmol/dl) gesunken“, erinnert sie sich. „Ich aß zwei Broteinheiten Traubenzucker und trank eine Fanta, doch die Symptome wurden schlimmer und mir ging es immer schlechter. Ich schaffte es nicht mehr, weitere Notfall-BEs zu mir zu nehmen.“ Als bei Anika Sprachstörungen einsetzten, reagierten ihre Freunde richtig und alarmierten den Notarzt. Im Krankenwagen wurde ihr intravenös Glukose verabreicht und die junge Diabetikerin kam zur Überwachung ins Krankenhaus. „Es war nicht so, dass ich zu viel getrunken hätte, ich habe einfach nicht gewusst, wie Alkohol den Blutzuckerspiegel beeinflusst“, betont Anika.
Doppelte Wirkung
Alkohol ist gesellschaftsfähig – Von einem Gläschen Wein zum Essen oder dem Feierabendbier mit Freunden. Doch er beeinflusst den Blutzucker auf zwei besondere Arten, über die Diabetiker häufig nicht richtig aufgeklärt werden. Alkoholische Getränke enthalten Kohlenhydrate, die den Blutzuckerspiegel zunächst ansteigen lassen. Dabei kommt es nicht nur auf die Menge, sondern auch auf die Art des Getränks an. Beispielsweise sind viele Cocktails mit Fruchtsäften oder Sirup echte Zuckerbomben, aber auch Bier und (süßer Wein) können schnell für steigende Werte sorgen. Um den Blutzuckerspiegel im Normbereich zu halten ist also eine entsprechende Menge an Insulin nötig. Doch im Gegensatz zu normalen Mahlzeiten oder alkoholfreien Getränken muss die Insulinmenge anders berechnet werden, denn schon bald kommt es zur zweiten besonderen Wirkung des Alkohols. Das hat folgenden Grund: Bereits ab einem Blutalkoholspiegel von 0,45 Promille (und diese Grenze kann schon durch zwei kleine Gläser Bier erreicht werden), ist die Leberzuckerfreisetzung gestört. Zu den Aufgaben der Leber gehört es, Zucker in Form von Glykogen zu speichern und diese Reserven laufend ins Blut abzugeben. Dieser natürliche Mechanismus verhindert das zu tiefe Abfallen der Blutzuckerwerte. Die Leber ist aber auch für den Alkoholabbau zuständig. Währenddessen ist sie nicht in der Lage, Glukose zu mobilisieren und diese ins Blut auszuschütten.
Blutzuckerabfall beachten
Der Blutzuckerspiegel steigt aufgrund der Kohlenhydrate in alkoholischen Getränken also zunächst an, sinkt jedoch auch ohne die Gabe von Insulin anschließend wieder ab. Wer sich für Bier, Wein und Co. Insulin spritzt oder orale Antidiabetika einnimmt, muss auch den durch den Alkohol bedingten Blutzuckerabfall beachten. Insulin und orale Antidiabetika potenzieren den Einfluss des Alkohols. Schwere Unterzuckerungen können die Folge sein. Hinzu kommt, dass dessen berauschende Wirkung im wahrsten Sinne des Wortes die Sinne trübt. Unterzuckerungsanzeichen werden häufig zu spät oder sogar gar nicht bemerkt, was ein Gegensteuern schwierig macht. Auch bei Anika war das so: „Normalerweise treten bei mir schon ab Werten von etwa 70 mg/dl (3,9 mmol/dl) erste Symptome wie Zittern auf und ich kann rechtzeitig Notfall-BEs essen“, sagt die Typ-1-Diabetikern, die zuvor noch keine schwere Unterzuckerung erlebt hat. „Für mich war es erschreckend zu merken, wie hilflos ich an meinem Geburtstag war.“ Seit diesem Erlebnis nimmt Anika das Thema Alkohol ernst: „Ich berechne immer noch die Menge der Kohlenhydrate in alkoholischen Getränken, korrigiere aber vorsichtiger und kontrolliere öfter meinen Blutzucker.“
Nachts ist es noch nicht vorbei
Was zudem viele Menschen mit Diabetes unterschätzen, ist dass die Wirkung des Alkohols auch noch in der Nacht und am nächsten Morgen oder am nächsten Tag anhalten kann. Dabei kommt es neben der Gesamtmenge auch darauf an, wann die ersten alkoholischen Getränke getrunken, wie lange die Gläser gefüllt und, was beziehungsweise wie viel gegessen wurde. Nach Alkoholgenuss drohen vor allem in der Nacht schwere Unterzuckerungen. Der alkoholbedingte Blutzuckerabfall tritt nicht nur verspätet ein (etwa acht bis zwölf Stunden nach dem ersten Glas), sondern hält auch überdurchschnittlich lange an. Aus diesem Grund ist eine Kontrolle des Blutzuckerwertes vor dem Einschlafen unbedingt nötig. Selbst wenn dieser im Normalbereich liegt, sollten Sie noch etwas essen, um dem folgenden Abfall vorzubeugen. Sind die Werte bereits zu niedrig, dann sind in der Regel mehr Notfall-BEs nötig, um den Blutzuckerspiegel wieder zu stabilisieren. Informieren Sie zudem zur Sicherheit Angehörige oder Freunde, damit diese Ihnen, wenn nötig, helfen können. Stellen Sie sich einen Wecker für nachfolgende Kontrollmessungen und sorgen Sie dafür, dass stets Traubenzucker oder zuckerhaltige Getränke griffbereit sind.
Rechtzeitig eingreifen
Zu den wichtigsten Regeln bei beziehungsweise nach Alkoholgenuss zählen die Kontrolle des Blutzuckerspiegels und somit auch die Beobachtung des Trends (steigen oder fallen die Werte). Spezielle Apps oder Alarme an der Insulinpumpe können helfen, Blutzuckerabfälle rechtzeitig zu erkennen und so vor Unterzuckerungen schützen. Mit Diabetes zu leben heißt auch, Situationen richtig einzuschätzen, zu lernen und etwas vorauszuschauen. Die Betonung liegt hier auf lernen, denn keiner versteht die Krankheit von Anfang an und handelt immer richtig. Auf diesem Weg hilft es, bestimmte Regeln zu kennen und Abläufe im Körper zu verstehen. Die folgenden Beispiele von Typ-1-Diabetikern zeigen, wie unterschiedlich der Umgang mit Alkohol sein kann.
Beispiel 1: Marcel trifft sich nach der Arbeit mit einem Freund zum Fußball schauen. Er trinkt eine Flasche Bier und isst zwei Stück Pizza. Der Typ-1-Diabetiker berechnet die Kohlenhydrate (Essen und Bier) und spritzt sich die entsprechende Menge Insulin. Die Nacht verläuft gut, ohne niedrige Blutzuckerwerte.
Erklärung: Marcel hat nur eine geringe Menge Alkohol getrunken und dazu fett- und kohlenhydratreich gegessen. Da die Leberzuckerfreisetzung unter diesen Umständen nicht gehemmt wird, ist es richtig, das eine Glas Bier normal zu berechnen und Insulin zu geben. In der Nacht muss er sich keine Sorgen machen, da kein Blutzuckerabfall zu befürchten ist. Im Gegenteil: Durch Fett und Eiweiß steigt der Blutzucker tendenziell eher an. Tipp: Wenn Sie wissen, dass Sie nur eine geringe Menge Alkohol zum Essen trinken, können Sie sich auch die entsprechende Menge Insulin geben, um die Werte stabil zu halten.
Beispiel 2: Jana ist um 23:00 Uhr auf eine Geburtstagsparty eingeladen. Vorher isst sie mit ihrem Freund zu Abend und trinkt zwei Gläser Wein. Die Typ-1-Diabetikerin gibt sich für den ersten Wein Insulin, den zweiten berechnet sie nicht mehr. Zwei Stunden später ist ihr Blutzuckerspiegel etwas erhöht, doch sie entscheidet sich dazu, abzuwarten und trinkt noch etwas auf der Party. Weitere zwei Stunden später zeigt sich ein deutlicher Abfall des Wertes, jedoch droht keine Unterzuckerung. Vor dem zu Bett gehen ist Janas Blutzuckerspiegel normal. Da sie die Auswirkungen des Alkohols kennt, isst sie zwei schnelle BEs und wacht am nächsten Morgen mit 118 mg/dl (6,5 mmol/dl) auf.
Erklärung: Auch Jana hat vor dem Alkoholgenuss etwas gegessen, das Essen richtig insuliniert und sich für den Wein die entsprechende Menge Insulin gegeben. Alle weiteren Getränke hat sie nicht berechnet. Jana nimmt die kurzzeitig erhöhten Werte in Kauf, da sie schon im Vorhinein mit der Blutzuckersenkung rechnet. Die zusätzlichen Broteinheiten vor dem Einschlafen bremsen den restlichen Abfall ab und sorgen für Stabilität.
Tipp: Beugen Sie dem Blutzuckerabfall vor, indem Sie Blutzuckeranstiege nicht zu streng und zu schnell korrigieren. Vor dem Einschlafen sollte der Wert nach einer Partynacht etwas über dem Normalbereich liegen. Essen Sie wenn nötig noch zusätzliche BEs.
Beispiel 3: Nach der Arbeit geht Miriam zum Sport und lässt das Abendessen ausfallen. Anschließend ist auch sie auf eine Party eingeladen. Sie trinkt einen Cocktail und spritzt sich Insulin. Die darauffolgenden Biere berechnet sie nicht. Dennoch setzt bei Verena der Blutzuckerabfall wesentlich früher ein, als bei Jana. Sie muss mehr Traubenzucker als gewöhnlich essen, um die Werte einigermaßen stabil zu halten. In der Nacht ist sie sehr erschöpft und vergisst die Kontrollmessung. Kurze Zeit später folgt das Unterzuckerungs- Erwachen.
Erklärung: Miriam startet anders in die Party-Nacht als Jana: Sie lässt das Abendessen aus und treibt Sport, wodurch der Blutzuckerspiegel absinkt. Zusätzlich gibt sie sich Insulin für den Cocktail. Der Blutzuckerspiegel, der noch auf die körperliche Anstrengung reagiert, sinkt in diesem Fall schneller als bei Jana. Die Schwankungen und die körperliche Anstrengung in Kombination mit fehlender Energie erschöpfen die Typ-1-Diabetikerin. In der Nacht wird die Situation gefährlich, da Miriam vor dem Einschlafen nicht mehr misst oder etwas isst. Die Blutzuckerwerte rasen weiter in den Keller und die Symptome werden nicht rechtzeitig erkannt. Auch wenn Miriam noch eingreifen kann, zeigt dieses Beispiel, was eine Verkettung von Ereignissen auslösen kann.
Tipp: Bedenken Sie stets, dass diverse Faktoren den Blutzuckerspiegel beeinflussen und sorgen Sie für eine gute Grundlage, bevor Sie etwas trinken. Informieren Sie vertraute Personen, wenn Sie einen Blutzuckerabfall bemerken.
Beispiel 4: Dass der Blutzuckerspiegel aber nicht immer sinkt, zeigt das vierte Beispiel: Nach einer Erkältung geht es Astrid wieder gut, doch die Blutzuckerwerte schwanken noch. Sie ist auf einer Hochzeit eingeladen. Dort wird zum Essen ein Sektcocktail mit Sirup serviert. Aus Angst vor einer Unterzuckerung spritzt sich Astrid kein Insulin. Die Werte schnellen in die Höhe und fallen ohne die Gabe von Insulin nicht mehr ab.
Erklärung: Für einen speziellen Fall steht Astrid mit der gerade überwundenen Erkältung. Infekte können dazu führen, dass die Insulinempfindlichkeit sinkt und eine Resistenz verursachen. Dabei endet die durcheinandergeratene Stoffwechsellage nicht automatisch mit dem Ende der Erkältung. Astrid weiß, dass der Blutzuckerspiegel durch die Alkoholwirkung sinkt und vergisst dabei, dass ihr persönlicher Insulinbedarf gerade erhöht ist. Der Sektcocktail mit Sirup lässt die Werte ansteigen und bringt den Blutzucker weiter aus dem Gleichgewicht.
Tipp: Bei einem bereits entgleisten Stoffwechsel und Blutzuckerschwankungen sollten Sie auf Alkohol verzichten, um Komplikationen vorzubeugen. Denken Sie zudem daran, jede Situation individuell zu betrachten.