Stärker werden

Stress bewältigen

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und dadurch immer mehr in einer „Stressgesellschaft“. Bei Menschen mit Diabetes kommt eine weitere psychosoziale Belastung durch die chronische Erkrankung hinzu. Doch es gibt Wege, den Alltag zu erleichtern, den Stress zu bewältigen und neue Motivation zu gewinnen. Einen wichtigen Beitrag leistet dabei die persönliche Akzeptanz.

Wundert es Sie, dass rund 66 Prozent der Menschen mit Diabetes über eine deutlich reduzierte Lebensqualität berichten und bei immerhin 14 Prozent eine Depression wahrscheinlich ist? Das sind die Ergebnisse der DAWN2-Studie aus dem Jahr 2015. Eine chronische Krankheit bedeutet auch immer eine psychosoziale Belastung. Die Diabetes-bezogenen Belastungen im Speziellen können wiederum zu Problemen im Umgang mit der Therapie und zu einem höheren Risiko für Folgeerkrankungen führen. Was Sie jetzt lesen, wird Ihnen vielleicht bewusst oder unterbewusst Angst machen. Generell ist es beängstigend zu wissen, dass einem als Diabetiker möglicherweise Folgeschäden drohen. Natürlich können diese vermieden werden, aber die Angst um die eigene Gesundheit ist einfach immer wieder präsent.

Angst setzt unseren Körper in Alarmbereitschaft. Angst kann dazu führen, dass wir flüchten oder uns zurückziehen. Und die Angst vor Folgeschäden ist nur ein Aspekt, der Menschen mit Diabetes belastet. Ausgrenzung oder die Angst vor Leistungseinbußen sind weitere psychische Faktoren. Hinzu kommt, dass Blutzuckerschwankungen auch körperliche Auswirkungen haben. Das ist Fakt, wird aber meist im Zusammenhang mit einem erhobenen Zeigefinger erwähnt.

Wer also nicht auf seine Blutzuckereinstellung achtet, der wird die Folgen zu spüren bekommen. Doch manchmal, hin und wieder sogar öfters, ist es gar nicht so einfach, ein Bilderbuch-Diabetiker zu sein. Hier mal zu viel gegessen, da eine Unterzuckerung und immer wieder die Überwindung, alles zu protokollieren. Der Diabetes ist ein ständiger Begleiter, der uns keinen Urlaub gönnt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie wir das Leben mit dem Diabetes so gestalten können, dass wir nicht in die Stressfalle tappen, sondern trotz der Belastung im Alltag Kraft schöpfen und die Therapie motiviert angehen und durchhalten können.

Stress ist subjektiv

„Um eine chronische Krankheit dauerhaft gut zu bewältigen, ist es wichtig, eine gewisse Achtsamkeit und Akzeptanz zu entwickeln“, sagt Karin Wolf. Die Entspannungstherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie hilft stressgeplagten Menschen, entspannter mit Druck, Anspannung, Ängsten und hohen (inneren) Anforderungen umzugehen. „Natürlich werden wir immer mit Situationen konfrontiert sein, die uns stressen und die auch tatsächlich belastend sind, aber wir machen uns ebenso viel Stress in unserem eigenen Kopf“, gibt die Expertin zu bedenken. Stress und dessen Wahrnehmung seien immer subjektiv.

Was den einen schon völlig aus der Bahn wirft, ist für den anderen kein Grund zur Aufregung. „Wir haben alle unsere abgespeicherten Muster, die angetriggert werden und dann völlig automatisch wie ein Hintergrundprogramm am Computer ablaufen“, betont Karin Wolf und fügt hinzu: „oft bemerken wir diese noch nichtmal.“

Sich selbst ein Freund

Kommt Ihnen folgende Situation bekannt vor? Sie haben einige Zeit nach dem Essen einen hohen Wert und sind sich bewusst, dass ein Therapiefehler die Ursache ist. Zum Beispiel haben Sie zu viel gegessen oder zu wenig Insulin gespritzt. Nun machen Sie sich Vorwürfe und würden den hohen Wert am liebsten gar nicht in Ihr Protokoll eintragen. Vielleicht denken Sie Sätze wie: „Warum schaffe ich es nicht, meine Mahlzeiten richtig zu berechnen?“, „Warum musste ich auch so viel essen“, oder „Jetzt habe ich schon wieder einen hohen Wert und schädige meinen Körper.“

Gerade spricht also Ihr innerer Kritiker zu Ihnen. Sie verallgemeinern und katastrophisieren vielleicht. Doch konstruktiv ist diese Kritik an sich selber nicht. Viel eher werden Sie ein Gefühl der Ohnmacht oder Lethargie verspüren. Eventuell auch Wut, ein wenig Verzweiflung und Scham. Wenn Sie sich nun vorstellen, dass eine Freundin oder ein Freund an Ihrer Stelle wäre und mit einem erhöhten Blutzuckerwert vor Ihnen säße, was würden Sie ihm dann raten? Bestimmt nicht, sich selbst weiter fertig zu machen und regelrecht Öl ins Feuer zu gießen. Viel wahrscheinlicher würden Sie alles versuchen, damit sie oder er jetzt etwas an dem Zustand ändert und gleichzeitig weiterhin motiviert nach vorne blickt. Würden Sie akzeptieren, dass der Diabetes die Überhand gewinnt?

Sich selbst zuhören

Wir haben oft ein gutes Gefühl für andere Menschen. Für deren Empfindungen, Stimmungen und Ängste. Weil wir anderen zuhören. Uns selbst schenken wir hingegen viel zu selten ein aufmerksames Ohr. Wir sind uns selbst gegenüber selten achtsam. „Leider werden wir so erzogen“, sagt Karin Wolf. „Das Thema Selbstliebe ist in unserer westlichen Welt nicht präsent. Dabei ist das Herz der Achtsamkeit die Güte, die Liebe zu sich selbst.“ Wichtig sei zu erkennen, wie ich mit mir selber umgehe, was ich über mich denke und was ich mache, wenn ich in einer Stresssituation bin. Im Falle des erhöhten Wertes ist es also für unser Stress- und Beruhigungssystem viel günstiger, wenn ich liebevoll mit mir umgehe. Heißt, die Situation zwar wahrzunehmen, wie sie ist, auch, dass ein Fehler passiert ist, mich aber nicht dafür zu strafen.

Motivation statt Selbstkritik

„Wir leben zwar in einer Leistungsgesellschaft, in der uns der innere Kritiker oft antreibt, allerdings wissen wir mittlerweile, dass uns freundliche Motivation weiter bringt als Selbstkritik“, gibt Karin Wolf zu bedenken. „So können wir uns weiterentwickeln, aus Fehlern lernen und uns motivieren, neue Versuche zu wagen.“ Wichtig sei es, sich selbst immer wieder ins Bewusstsein zu holen, dass man in erster Linie Mensch und keine Maschine ist. Fehler gehören genauso dazu wie auch der Wunsch nach einer Auszeit vom Diabetes. Bei Kindern und Jugendlichen können wir die (kindliche) Wut auf die Krankheit noch eher verstehen. Erwachsene rufen wir zur Beherrschung auf. Nach dem Motto: „Du musst dich mit dem Diabetes abfinden.“ Erwachsenen wird weniger zugehört und ihnen werden oft weniger Emotionen zugestanden.

Doch genau das ist ein Knackpunkt: Emotionen sind normal und wollen gehört werden. Unterdrückte Gefühle erzeugen Frust und erschweren die Akzeptanz einer Situation. „Lernen Sie, Ihre Gefühle zu erkennen und wahrzunehmen“, empfiehlt die Entspannungstrainerin. „Das ist allerdings nicht möglich, wenn Sie diese immer wegschieben. Tagsüber drehen wir uns im Hamsterrad, um am Ende des Tages wie eine Schildkröte auf dem Rücken zu liegen und ins Bett zu fallen.“ Das ist eine Einbahnstrasse. Verdrängen ist genau das Gegenteil von Spüren. Den ganzen Tag beschäftigt zu sein und sich nur Abzulenken ist eben auch eine Art des Verdrängens. Achtsamkeit hingegen bedeutet also, in sich hineinzuhören und das hat nichts mit Esoterik zu tun. Vielmehr ist es eine Art Bestandsaufnahme. Wie geht es mir, was fühle ich und welche Reaktionen beziehungsweise Stimmungen lösen diese Gefühle aus?

Ein andauernder Prozess

Um Akzeptanz zu entwickeln, ist es wichtig, zu erkennen, wo man selbst steht. Wo stehe ich? Wehre ich mich gegen etwas? Investiere ich meine Energie in einen inneren Kampf? Am Anfang steht also die Auseinandersetzung mit sich selbst. Um einen bestehenden Widerstand zu überwinden, ist ein liebevoller Umgang mit sich selbst nötig. Sie können sich nicht einfach auf die „positive Seite“ zwingen. „Neue Strategien zu erlernen braucht Zeit“, sagt Karin Wolf. „Anschließend müssen diese im Alltag erprobt und gefestigt werden. Bei Diabetes gibt es unterschiedliche Aspekte, die Akzeptanz schwer machen, deswegen sollten Sie nachsichtig sein und wissen, dass die Entwicklung von Akzeptanz ein Prozess ist.“ Die Entspannungstrainerin beschreibt den Prozess als Spirale, die sich nach oben schraubt, denn Akzeptanz ist kein statischer Zustand und fordert immer wieder die Auseinandersetzung mit sich selbst und mit äußeren Umständen. Aber Akzeptanz ist eben ein wichtiger Teil im Stressbewältigungskoffer, den Sie bei sich tragen.

Unterstützung will gelernt sein

Für Partner und Familie ist der Diabetes eines Angehörigen auch oft mit Ängsten und Stress verbunden. Die chronische Krankheit hat eben einen Einfluss auf viele Bereiche des alltäglichen Lebens. Doch wenn Sie Ihren Liebsten ehrlich von Ihren Ängste, Sorgen und Nöten erzählen, dann ist das ein erster Grundstein, um eine gute Unterstützung zu erhalten. Ihr Gegenüber kann auf Grundlage dessen Verständnis entwickeln und Sie im Prozess der Selbstliebe und Akzeptanz unterstützen. Wichtig ist zu vermeiden, dass eine Unterstützung in Kontrolle oder Wut ausartet.

Das gilt übrigens auch für Eltern, deren Kind Diabetes hat. Als Beispiel: Sie nehmen sich vor, Ihr Protokoll regelmäßig zu führen, schaffen es aber an einem Tag nicht, weil Sie sich überfordert fühlen. Konstruktiv wäre es nun, mit Ihrem Partner darüber zu reden. Warum fühlen Sie sich überfordert, was passiert vielleicht gerade in Ihrem Leben, das Sie zusätzlich stresst und was brauchen Sie gerade, um neue Motivation zu entwickeln? Wenig hilfreich wäre es hingegen, wenn Ihr Partner das Ganze persönlich nimmt und Ihnen Vorwürfe macht. Diese entstehen leider aber oft aus Angst, deswegen sollten auch Sie Ihren Partner bitten, Ihnen seine Situation und seine Gefühle zu schildern und ebenso versuchen, Verständnis für ihn aufzubringen. So vermeiden Sie, dass sich Situationen unnötig hochschaukeln.

Eine innere Haltung entwickeln

Wenn ich nur noch liebevoll zu mir selbst bin, kann es dann sein, dass mir irgendwann der Antrieb fehlt und ich meine Therapieführung nicht mehr ernst nehme? „Eine berechtigte Frage“, sagt Karin Wolf und lächelt: „aber ich kann Sie beruhigen. Wenn ich liebevoll mit mir umgehe und mich mit meinen Stärken, aber eben auch mit meinen Schwächen akzeptiere, dann weiß mein klar denkender Anteil, dass ich mich weiter um mich kümmern muss. Und dazu gehört eben auch die Therpieführung.“

Was man über die Zeit entwickelt, ist also eine innere Haltung, die verzeiht aber auch anspornt und verhindert, dass wir durch inneren Druck, Angst und Stress in Lethargie verfallen.