Besser Messen

Unterschätztes Risiko

Problematisch sind nicht nur zu hohe Blutzuckerspiegel – auch zu niedrige Werte können gefährliche Auswirkungen haben. Trotzdem wird dieses Problem bei Typ-2-Diabtes oft unterschätzt. Das gilt vor allem für nächtliche Unterzuckerungen.

Von einer Hypoglykämie spricht man, wenn der Blutzuckerspiegel unter 70 mg/dl (3,9 mmol/l) sinkt. Neben dem Messwert spielen außerdem Warnzeichen und Symptome eine wichtige Rolle (siehe Kasten). Diese Symptome können bei Typ-2-Diabetes jedoch sehr diskret sein und viele erst mal gar nicht an eine Unterzuckerung denken lassen. So wie bei Matthias: Er ist 62 Jahre alt und hat seit zehn Jahren Typ-2-Diabetes. An manchen Tagen fühlt er sich morgens zerschlagen und gar nicht leistungsfähig – obwohl er die ganze Nacht durchgeschlafen hat. Matthias hat dafür eine einfache Erklärung: „Das ist bestimmt dieser ewige Stress in der Firma. Es wird Zeit, dass ich in den Vorruhestand gehe.“ Ähnlich geht es Gabriele. Die 52-jährige hat ihren Typ-2-Diabetes schon seit zwölf Jahren. An manchen Tagen wacht sie morgens nur schwer auf, fühlt sich abgeschlagen und hat Kopfschmerzen. Eigentlich macht ihr die Arbeit in der Steuerkanzlei viel Spaß, aber an diesen Tagen kann sie sich nur mit Mühe auf die vielen Zahlen konzentrieren. Gabriele ist sich sicher: „Das sind die Wechseljahre. In meinem Alter schlafen ja viele Frauen schlecht.“ Auf die Frage ihres Arztes nach dem Befinden, haben beide nur mit einem knappen „gut“ geantwortet und damit eine Chance vertan: Denn auch wenn die Erklärungen von Matthias und Gabriele plausibel klingen – der wahre Grund für die mangelnde nächtliche Erholung könnten in beiden Fällen auch nächtliche Unterzuckerungen sein.

Nächtliche Unterzuckerungen geschehen oft im Verborgenen

Der Diabetologe Dr. Stephan Kress, Diabetologe am Vinzentius-Krankenhaus in Landau in der Pfalz, weiß: „Probleme beim Aufwachen, verschwitzte Nachtwäsche, morgendliche Kopfschmerzen, Alpträume und morgens das Gefühl nicht erholt zu sein – alle diese Symptome können auf leichte nächtliche Hypoglykämien hinweisen. Auch unerklärliche, hohe Blutdruckwerte beim Aufwachen am Morgen können ein Indiz für eine nächtliche Unterzuckerung sein. Und weil die Beschwerden so allgemein sind und auch viele andere Erklärungen zulassen, werden sie oft nicht erkannt oder falsch gedeutet.“ Wissenschaftliche Untersuchungen, in denen Menschen mit Typ-2- Diabetes nachts regelmäßig ihren Blutzucker gemessen haben oder bei denen ein regelmäßiges Glukosemonitoring erfolgte, zeigen, dass mindestens ein Drittel von ihnen von therapiebedingten Unterzuckerungen betroffen ist. Mehr als die Hälfte dieser Unterzuckerungen treten während der Nachtstunden auf. „In meiner Klinik mache ich vergleichbare Erfahrungen, wenn wir die Patienten dazu anhalten, ihren Blutzucker nachts zu messen“, so Kress und er ergänzt: „Viele Betroffene sind ziemlich überrascht, wenn sie sehen, wie niedrig ihre Blutzuckerspiegel nachts oft sind. Den Zusammenhang zwischen ihrem schlechten morgendlichen Befinden und nächtlichen Hypoglykämien haben sie nie hergestellt.“

Hypoglykämie: Nicht nur eine Befindlichkeitsstörung

Deshalb sollten Menschen mit Diabetes beim Gespräch mit ihrem Arzt auch Beschwerden benennen, die aus ihrer Sicht erst einmal nichts mit ihrer Stoffwechselerkrankung zu tun haben. Dazu gehört auch nächtliches Schwitzen oder das Gefühl, den beruflichen Anforderungen nicht mehr gerecht werden zu können oder nicht belastbar zu sein. Der Arzt kann mit seinem Wissen und durch gezieltes Nachfragen die richtigen Schlüsse ziehen. Möglicherweise wird er die Betroffenen bitten, einige Nächte lang nachts den Blutzucker zu messen, um das Problem dingfest zu machen. Anschließend wird er gemeinsam mit dem Patienten nach Lösungen suchen. Neben einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit, können Hypoglykämien weitere Konsequenzen haben. Das gilt insbesondere für schwere Unterzuckerungen, bei denen die Betroffenen die Hilfe anderer benötigen. Dr. Kress macht deutlich: „Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass häufige schwere Unterzuckerungen das Herz-Kreislauf- System schädigen können und mit einer beeinträchtigten geistigen Leistungsfähigkeit bzw. einer Demenz in Verbindung stehen.“ Diese schweren Unterzuckerungen sind bei Menschen mit Typ-2-Diabetes aber vergleichsweise selten.

Bloß nicht: Das Therapieschema eigenhändig verändern!

Doch was tun, um Unterzuckerungen zu vermeiden? Lieber doch hohe Blutzuckerspiegel in Kauf nehmen, um auf der sicheren Seite zu sein? Ganz sicher: Nein! Marianne arbeitet in einem großen Unternehmen für Hausgeräte. Regelmäßig muss sie an Besprechungen mit der Konzernzentrale teilnehmen – und da muss sie voll bei der Sache sein. Marianne hat schon lange Typ-2-Diabetes und spritzt abends ein Basalinsulin. Sie fürchtet sich vor nächtlichen Unterzuckerungen und der damit verbundenen evtl. eingeschränkten Leistungsfähigkeit am nächsten Morgen. An Abenden, an denen am nächsten Morgen eine wichtige Besprechung ansteht, spritzt sie deshalb weniger Basalinsulin als ihr Arzt verordnet hat. So hofft sie, am Morgen wirklich fit zu sein. Die Blutzuckereinstellung von Marianne ist dementsprechend schlecht. Dr. Kress mahnt: „Mit dem eigenmächtigen Verändern des Therapieschemas nehmen die Patienten eine schlechtere Einstellung in Kauf und haben dann langfristig ein erhöhtes Risiko für Spätkomplikationen wie zum Beispiel Nervenschädigungen.“ Auch das ist keine gute Idee zur Vermeidung von nächtlichen Hypoglykämien: Das Einnehmen von zusätzlichen Zwischen- oder Spätmahlzeiten – besonders deshalb, weil Menschen mit Typ-2-Diabetes ohnehin häufig Gewichtsprobleme haben.

Nicht nur Insulin führt zu Unterzuckerungen

Doch nicht nur Insulin kann Hypoglykämien hervorrufen, auch „Zuckertabletten“ können hinter zu niedrigen Blutzuckerspiegeln stecken. Besonders häufig treten Unterzuckerungen unter sogenannten Sulfonylharnstoffen auf. „Die beste Strategie ist es, Wirkstoffe zur Behandlung des Diabetes zu verwenden, die kein oder nur ein geringes Risiko für Unterzuckerungen haben. Moderne Therapieop- tionen zur Behandlung des Typ-2- Diabetes haben insgesamt ein vergleichsweise geringes Unterzuckerungsrisiko“, so Dr. Kress. Auch die Leitlinie zur Therapie von Menschen mit Typ-2-Diabetes – eine Art Handlungsanweisung für Ärzte – sieht vor, dass solche Behandlungsoptionen bevorzugt werden sollten, die kein bzw. nur ein sehr niedriges Hypoglykämierisiko besitzen.

Hypo-Score: Das individuelle Risiko besser einschätzen

Da nicht alle Menschen mit Diabetes das gleiche Risiko für eine Unterzuckerung besitzen, hat Dr. Kress zusammen mit Kollegen einen Score entwickelt: „Wer diesen Hypoglykämie-Score anwendet, hat die Chance, bereits die erste Unterzuckerung des jeweiligen Patienten zu verhindern – durch entsprechende Vorbeugung, zu der auch eine punktgenaue Auslese geeigneter Medikamente gehört.“ So gibt es eine Reihe von Faktoren, die das Auftreten von Hypoglykämien begünstigen können. Ein besonders hohes Risiko für eine Unterzuckerung haben Menschen, die bereits eine schwere Hypoglykämie erlebt haben, die schwere Nierenfunktionsstörungen aufweisen sowie Menschen mit Einschränkungen ihrer Denkfähigkeit bzw. mit einer Demenz. Auch sehr alte Menschen sind stärker gefährdet. Ein ganz besonders hohes Risiko für schwere Hypoglykämien haben außerdem Menschen, die nicht in der Lage sind, eine Unterzuckerung rechtzeitig wahrzunehmen. Diese so genannten Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörungen sind bei Typ-2-Diabetes aber nicht so häufig. „Auch Patienten, die ihre Behandlung nicht verstanden haben bzw. die nie eine Diabetesschulung besucht haben, sind häufiger von Unterzuckerungen betroffen. Außerdem kann die für Typ-2- Diabetes so wichtige körperliche Aktivität Probleme bereiten, so Dr. Kress und er ergänzt: „Das heißt natürlich nicht, dass ein Mensch mit Typ-2-Diabetes nicht körperlich aktiv sein soll – ganz im Gegenteil!“

Wissen schafft mehr Sicherheit!

So ist Matthias zusammen mit seinem Arzt dem Unterzuckerungsproblem auf den Grund gegangen: Sie haben herausgefunden, dass die morgendlichen Probleme immer donnerstags besonders ausgeprägt waren. Am Mittwochabend spielt Matthias zusammen mit ein paar anderen älteren Herren Handball und gibt dabei so richtig Gas. Nachts muss der Körper die leergeräumten Glykogenspiegel der Muskeln wieder aufbauen – das kann zu Unterzuckerungen führen. Mithilfe seines Arztes hat er die Therapie mittwochs und donnerstags angepasst – jetzt gehört auch der Donnerstag zu Matthias starken Tagen. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass Menschen mit Diabetes gut über ihre Erkrankung Bescheid wissen und die Zusammenhänge zwischen Lebensstil, blutzuckersenkenden Arzneimitteln und Hypoglykämien kennen. Menschen mit Diabetes sollten deshalb jede Gelegenheit nutzen, um eine Diabetesschulung zu besuchen.  

Am Morgen immer noch müde? Und das, obwohl man die ganze Nacht durchgeschlafen hat? Eine Unterzuckerung kann die Ursache sein.