Richtwert mit Schwächen
Der Langzeitblutzuckerwert HbA1c gilt als Richtwert für die Diabetestherapie. Doch ob sich eine gute Blutzuckereinstellung alleine am HbA1c festmachen lässt, daran haben Experten ihre Zweifel.
Seit seinem zwölften Lebensjahr hat Sven Diabetes und spritzt mehrmals täglich Insulin. Er ist von Typ-1-Diabetes betroffen. Bei Greta hat der Arzt vor zehn Jahren Typ-2-Diabetes festgestellt. Lange Jahre kam sie nur mit Zuckertabletten zurecht. Seit zwei Jahren spritzt sie abends ein langwirksames Insulin. Um zu sehen, wie gut die Einstellung ihrer Patienten ist, bestimmt der Arzt von Sven und Greta in regelmäßigen Abständen den Langzeitblutzuckerwert HbA1c.
Von einer guten Einstellung profitieren
„Eine anhaltend gute Blutzuckereinstellung erhöht die Chance auf ein langes und gutes Leben. Das gilt für Typ-1-Diabetes ebenso wie für Typ-2-Diabetes“, so Dr. Stephan Kress, Diabetologe aus Landau, und ergänzt: „Als Goldstandard für Beurteilung der Blutzuckereinstellung gilt der Langzeitblutzuckerwert HbA1c. Liegt dieser Wert dauerhaft unter sieben Prozent, ist das Risiko für Folgeerkrankungen des Diabetes nachweislich verringert.“
Der HbA1c spiegelt die Blutzuckereinstellung der letzten zwei Monate wider und wird deshalb routinemäßig zur Verlaufskontrolle beim Arzt bestimmt. Dr. Kress betont: „Ein hoher HbA1c-Wert zeigt an, dass die Blutzuckerwerte regelmäßig zu hoch waren. Das ist Gift für die Gefäße und sollte in jedem Fall vermieden werden.“
„One fits all“ ist Schnee von gestern
Während früher in den ärztlichen Therapieleitlinien für alle Menschen mit Diabetes ein HbA1c-Zielwert von 6,5 Prozent gefordert wurde, geht man die Sache heute differenzierter an. Für Menschen mit Typ-1-Diabetes wird in der Regel ein HbA1c-Wert von unter 7,5 Prozent (58 mmol/mol) angestrebt. Ziel ist es, diesen Wert zu erreichen, ohne dass schwerwiegende Hypoglykämien auftreten.
Für Menschen mit Typ-2-Diabetes gilt meist ein HbA1c-Zielkorridor von 6,5 Prozent bis 7,5 Prozent (48 bis 58 mmol/mol). Den individuellen HbA1c-Zielwert legen Arzt und Patient dabei gemeinsam fest. Wichtige Kriterien sind dabei der Patientenwille (nach Aufklärung durch den Arzt), das Alter des Patienten und eventuell seine zusätzlichen Erkrankungen (je jünger und gesünder, desto ambitionierter das Therapieziel) sowie die Abwägung von Nutzen und Risiko (beispielsweise das Unterzuckerungsrisiko und eine mögliche Gewichtszunahme).
Trotz Diabetes viel erreichen
Der Zielwert für Sven ist ehrgeizig – er liegt bei 6,5 Prozent. Aber Sven hat auch noch viel vor. Er treibt intensiv Sport und läuft am liebsten Langstrecken. Sein Ziel: Dieses Jahr, spätestens 2018 will er seinen ersten Marathon über die volle Distanz laufen. Sven erklärt: „Für mich ist eine gute Blutzuckereinstellung sehr wichtig. Ich kann nur dann Leistungen erbringen, wenn meine Werte stimmen. Dies gilt für meinen Beruf als Zahntechniker genauso wie für mein Privatleben und den Sport.“ Anders bei Greta: Ihr Zielwert liegt bei 7,5 Prozent und selbst den kann sie nur mit viel Mühe halten. Aber Greta ist 75 Jahre alt und hat neben ihrem Diabetes eine Reihe weiterer gesundheitlicher Probleme: Ihr Blutdruck lässt sich nur schwer in den Griff bekommen, die Fettwerte sind erhöht und vor vier Jahren hatte sie einen Herzinfarkt. Hier ist der Arzt etwas vorsichtiger und hat in Absprache mit Greta das Blutzuckerziel weniger ambitioniert festgelegt.
Damit es mit der angepeilten Blutzuckereinstellung gut klappt, müssen Greta und Sven eine Reihe von Dingen beachten: Dazu gehören ausreichend Bewegung, eine ausgewogene Ernährung, Gewichtskontrolle, die regelmäßige Einnahme aller vom Arzt verordneten Medikamente bzw. die Injektion von Insulin. Ganz besonders wichtig sind außerdem regelmäßige Blutzuckerkontrollen.
Schlecht eingestellt – trotz gutem HbA1c?
„Sich bei der Beurteilung der Blutzuckereinstellung ausschließlich auf den HbA1c zu verlassen, ist jedoch problematisch“, weiß Dr. Kress. Das gilt insbesondere für Menschen mit stark schwankenden Werten. Hintergrund: Der HbA1c spiegelt die mittleren Glukosewerte der letzten 60 Tage wider, die tatsächlichen Blutzuckerwerte lassen sich aber nur begrenzt daraus ableiten. Das klingt komplex. Dr. Kress erklärt diesen Zusammenhang darum an einem Beispiel: „Ein HbA1c von 7 Prozent kann das Ergebnis gleichmäßig guter Glukosewerte zwischen 130 und 170 mg/dl sein. Ein Wert von 7 Prozent kann aber auch durch extreme Schwankungen – zum Beispiel zwischen 50 und 250 mg/dl – zustande gekommen sein. Ein Patient kann also durchaus einen guten HbA1c haben, obwohl er eigentlich miserabel eingestellt ist.“
Anna-Sophie – auch sie ist von Typ- 1-Diabetes betroffen – hatte regelmäßig mit starken Blutzuckerschwankungen und häufigen Unterzuckerungen zu kämpfen. Ihr HbA1c-Wert war eigentlich nicht schlecht, aber insbesondere die Hypoglykämien ließen ihren Arzt hellhörig werden. Sie trägt deshalb zurzeit ein Gerät zur kontinuierlichen Glukosemessung, bei dem ein kleiner Sensor unter der Haut engmaschig den Glukosewert misst. Diese durchgehende Glukosekontrolle kann in schwierigen Fällen helfen, Probleme bei der Einstellung aufzudecken und Lösungen zu finden.
Kress macht deutlich: „Zu einer wirklich guten Blutzuckereinstellung gehört deshalb mehr als nur ein HbA1c im Zielbereich: Die Differenz zwischen minimalen und maximalen Blutzuckerwerten sollte möglichst gering sein. Und: Auch Nüchternblutzucker (der vor dem Frühstück gemessene Wert) und Mahlzeitenblutzuckerwert (der zwei Stunden nach dem Essen gemessene Wert) sollten ihren Zielkorridor möglichst selten verlassen.“
Ergibt der HbA1c zusammen mit den Werten der Blutzuckermessung kein stimmiges Bild, sollten Arzt und Patient gemeinsam nach möglichen Ursachen fahnden. Ganz wichtig ist es deshalb, dass im Blutzuckertagebuch die tatsächlichen Messwerte stehen. „Geschönte“ oder geschätzte Werte sind hier wenig hilfreich.
Dr. Kress räumt auch mit einem weit verbreiteten Irrtum auf: „Viele Patienten glauben, dass sie ein hoher HbA1c vor Unterzuckerungen bewahrt. Aber das stimmt nicht: Auch bei einem hohen HbA1c-Wert kann es zu schweren Hypoglykämien kommen. Das gilt ganz besonders bei Menschen, deren Blutzuckerwerte stark schwanken.“
Der HbA1c hat Schwächen
Tageszeit, körperliche Aktivität, der Abstand zur letzten Mahlzeit – all das hat keine Auswirkungen auf den HbA1c. Trotzdem ist es nicht so, dass der HbA1c frei von äußeren Einflüssen ist – im Gegenteil, es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die das Messergebnis verfälschen können. „Erkrankungen oder angeborene Anomalien, die die Lebensdauer der roten Blutkörperchen verändern, können die Messwerte verändern“, weiß Dr. Kress. Die Lebensdauer der roten Blutkörperchen kann z.B. durch Blutarmut in Folge eines Eisenmangels, durch Leber- und Nierenerkrankungen sowie größere Blutverluste verändert werden. Kress ergänzt: „Außerdem können sich bestimmte Medikamente wie beispielsweise Acetylsalicylsäure und die Aufnahme sehr großer Mengen an Vitamin C oder E auf das Messergebnis auswirken. Auch eine Schwangerschaft beeinflusst den HbA1c.“ Ein weiteres Problem können unterschiedliche Messmethoden und Abweichungen vom Referenzwert einzelner Messgeräte sein. Dr. Kress macht klar: „Man sollte die Therapie eines Patienten nicht unbedingt nach einem einzigen zu hohen HbA1c-Wert umstellen. Es gilt, den Verlauf der HbA1c-Werte zu betrachten, die Therapie dementsprechend auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls zu adaptieren.“
HbA1c als Parameter für die Diabetesdiagnose
In den letzten Jahren wird der HbA1c- Wert nicht mehr nur zur Verlaufskontrolle des Diabetes herangezogen. Der Messwert gewinnt zunehmend auch für die Diabetesdiagnose an Bedeutung: Bei Stoffwechselgesunden liegt der HbA1c zwischen 4 Prozent und 6 Prozent. Bei Werten zwischen 5,7 Prozent und 6,4 Prozent spricht man von einem „Prädiabetes“. In diesem Fall, ist der Körper nicht mehr in der Lage adäquat auf die mit der Nahrung aufgenommene Glukose zu reagieren, aber es liegt auch noch kein Diabetes im eigentlichen Sinne vor. Man spricht in dieser Phase auch von einer gestörten Glukosetoleranz. Wie fortgeschritten die Stoffwechselstörung schon ist, lässt sich dann anhand der Nüchtern-Blutzuckerwerte und einem Glukosebelastungstest herausfinden. Liegt der HbA1c-Wert über 6,5 Prozent, ist die Sache klar: Der Betroffene ist an Diabetes erkrankt. In diesem Fall wird der Arzt mit dem Patienten das weitere Vorgehen besprechen.
Essen reichlich, Bewegung Fehlanzeige
Der 56-jährige Hans, der als Taxifahrer arbeitet, wollte bei seinem letzten Arztbesuch eigentlich nur ein Rezept für seine Tabletten gegen Bluthochdruck und die zu hohen Blutfette abholen. Doch die Ärztin bestand auf einer Blutabnahme. Ergebnis: Mit 6,0 Prozent war der HbA1c bei Hans im Grenzbereich zwischen einer gesunden Glukoseverwertung und einem manifesten Diabeteserkrankung. Hans wurde nochmal in die Praxis einbestellt. Die Ärztin bestimmte den Nüchternblutzucker und machte auch gleich einen Glukosebelastungstest. Auch diese Untersuchung bestätigte: „Da bahnt sich etwas an.“ Hans findet sich vom Schicksal ungerecht behandelt – als ob Bluthochdruck und gestörter Fettstoffwechsel nicht schon genug wären …
Übergewicht, Bluthochdruck, zu hohe Blutfettwerte und eine gestörte Glukosetoleranz – diese vier Veränderungen sind sehr häufig miteinander vergesellschaftet. Hintergrund ist meist eine zu reichliche und unausgewogene Ernährung, ein Mangel an Bewegung sowie Rauchen und „negativer Stress“. Doch das ist es nicht alleine – auch die genetische Ausstattung des Menschen spielt eine wesentliche Rolle. Bei Hans kommt einiges an Risikofaktoren zusammen: Er bringt zu viele Kilos auf die Waage, für Sport meint er, fehle ihm die Zeit und als Schwabe kann er auf sein Leibgericht – Käse-Spätzle mit reichlich in Butter geschmolzenen Zwiebeln – nur schwer verzichten. Seine beiden Schwestern haben schon seit Jahren gesundheitliche Probleme, darunter auch Diabetes-Typ-2.
Ein gesunder Lebensstil bringt mehr als nur gute Blutzuckerwerte
Auch noch Tabletten gegen Diabetes einzunehmen – das will Hans aber auf jeden Fall vermeiden. Deshalb beherzigt er den Rat seiner Ärztin und versucht sich an einem gesünderen Lebensstil. Fettreiche Fertigprodukte, Sahne, Chips, Schokolade und Co. hat er auf den „Index“ gesetzt. Statt wie früher zwischendurch einen Energieriegel zu essen, hat er heute eine kleine Box mit Karotten- und Gurkenstückchen im Taxi dabei. Und das Auto parkt er nicht mehr vor der Haustür, sondern grundsätzlich zwei Straßen weiter. So verschafft er sich ohne großen Aufwand ein Minimum an Bewegung.