Die Psyche mitbehandeln
Eine chronische Krankheit wie Diabetes wirkt sich auf die Psyche aus. Wiederum haben psychische Probleme auch Auswirkungen auf die Blutzuckereinstellung und die Therapieführung. Diese Zusammenhänge dürfen nicht unterschätzt werden und fordern eine adäquate Behandlung.
Im vergangenen Jahr erweiterte die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) ihre Muster- Weiterbildungsordnung der Psychologischen Psychotherapeuten und bietet seitdem eine Weiterbildung „Psychotherapie bei Diabetes“ an. Da Diabetes häufig mit psychischen Erkrankungen einhergeht, machten sich auch Experten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) und der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) für diese Erweiterung stark und weisen auf den enormen Versorgungsbedarf hin. Die Weiterbildung soll die Behandlungsqualität für Menschen mit Diabetes verbessern und diesen Patienten eine spezifischere psychotherapeutische Betreuung ermöglichen. Obwohl jedes Jahr schätzungsweise 300 000 Menschen neu an Diabetes mellitus erkranken und die Gesamtzahl der Erkrankten mit über sechs Millionen beziffert wird, kennen viele Betroffene das Problem, einen Therapeuten zu finden, der mit der Komplexität der Krankheit vertraut ist.
Eine einschneidende Diagnose
Im Alter von 24 Jahren wurde bei Julia Typ-1-Diabetes festgestellt. Damals studierte sie gerade Politikwissenschaften und bereitete sich auf die Abschlussprüfungen des Semesters vor. Als es ihr körperlich immer schlechter ging, wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert. „Die Diagnose Diabetes hat mich hart getroffen“, erinnert sich die junge Frau. „Mein Leben hat sich von heute auf morgen verändert. Für Außenstehende ist das oft schwer zu verstehen, denn viele denken, dass man die Krankheit in den Griff bekommt, indem man ein bisschen aufs Essen achtet und ab und zu den Blutzucker misst.“ Auch Julia war sich anfangs nicht bewusst, wie viele Faktoren die Therapie beeinflussen und welche Auswirkungen eine chronische Erkrankung auf das psychische Wohlbefinden haben kann. „Mit Diabetes kann man doch super leben“, diesen Satz bekam sie immer wieder zu hören und bald begannen die Selbstzweifel: „Ich hatte das Gefühl, der Krankheit regelrecht ausgeliefert zu sein. Die Blutzuckerschwankungen wirkten sich auf meine Stimmung aus und nach einer schweren Unterzuckerung, bekam ich Angst“, erzählt Julia, die zu dieser Zeit erhöhte Werte in Kauf nahm, um weitere Hypoglykämien zu vermeiden. „Allerdings wusste ich auch, dass mir Folgeschäden drohen würden“, sagt sie nachdenklich und fügt hinzu: „Doch das machte alles nur noch schlimmer, denn nun hatte ich Angst vor Unterzuckerungen und vor der Zukunft.“
Die Psyche nicht vernachlässigen
Es dauerte lange, bis den psychischen Auswirkungen bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Heute gibt es Studien, die belegen, dass psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Essstörungen bei Menschen mit Diabetes gehäuft auftreten. Wenn sich ein Großteil des Lebens um die Therapieführung dreht und zudem die Angst vor Folgeschäden geschürt wird, ist es nachvollziehbar, dass Patienten auch psychisch leiden. Hinzu kommen Blutzuckerschwankungen, Ängste und körperliche Symptome, die Stress verursachen. Oft beginnt dann ein Teufelskreis, denn der Behandlungsverlauf wird wiederum von psychischen Faktoren geprägt. Ein Diabetespatient muss den größten Teil der Therapieentscheidungen eigenverantwortlich treffen. Das erfordert ein hohes Maß an Selbstmanagement. Bei Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen ist dies aber gar nicht oder nur noch eingeschränkt möglich. Leidet die Psyche, dann leidet auch die Blutzuckereinstellung. Eine psychotherapeutische Mitbehandlung ist deshalb bei vielen körperlichen Erkrankungen wichtig. Wer mit der Diagnose Diabetes konfrontiert ist, muss einen Weg finden, die Krankheit in sein Leben zu integrieren und sich immer wieder von neuem zu motivieren. Gerade in schwierigen Zeiten ist dies nicht leicht.
Auswirkungen auf die Blutzuckereinstellung
Das hat auch Julia erlebt: „Kurz nach meiner Diagnose wurde meine jüngere Schwester sehr krank“, erinnert sich die heute 29- jährige Typ-1-Diabetikerin. „Ich wollte für sie da sein und vernachlässig- te meine Therapie. Mein HbA1c stieg immer weiter an und meine psychische Verfassung verschlechterte sich.“ Julias Diabetologe riet der jungen Frau zu einer Psychotherapie, doch es war nicht leicht, den passenden Therapeuten zu finden. „Ich litt unter einer schweren Depression und auch meine Ängste verschlimmerten sich. In der ambulanten Therapie besserte sich die Situation nicht“, sagt Julia heute. Sie fühlte sich unverstanden. „Mein Diabetes wurde regelrecht unter den Teppich gekehrt. Einmal bekam ich sogar zu hören, dass er ja kein Auslöser für eine Depression sein könne.“ Also suchte der Therapeut weiter nach möglichen Ursachen, jedoch ohne Erfolg. Währenddessen ging es Julia zusehends schlechter. Sie musste ihr Studium abbrechen und zog sich immer mehr zurück. „Ich hatte keine Energie mehr, für gar nichts. Ich wollte nur noch schlafen, nicht mehr essen und meine Eltern oder Freunde hatten mich schon ewig nicht mehr lachen gesehen“, erzählt uns Julia.
Letzte Rettung in der Klinik
In solchen Situationen ist es nicht nur für Betroffene, sondern auch für Angehörige schwer, wieder Licht am Ende des Tunnels zu sehen. „Wir haben uns einfach nur noch hilflos gefühlt“, erinnert sich Julias Mutter, die noch heute mit den Tränen zu kämpfen hat, wenn sie an diese schwere Zeit denkt. „Ich weiß nicht wie es ist, mit Diabetes zu leben, aber ich weiß heute, dass die Krankheit unterschätzt wird. Sie verändert das Leben und ich würde mir wünschen, dass dieser Punkt auch in der Öffentlichkeit mehr Beachtung findet.“ Julias Eltern verbrachten viele Abende damit, sich über Diabetes und psychische Folgen zu informieren. Eines Tages stießen sie auf eine Klinik in Bochum, die eine stationäre Psychotherapie für Menschen mit Diabetes mellitus anbietet. „Ich zeigte meiner Tochter die Webseite und sie war bereit, den Schritt zu gehen“, sagt Julias Mutter und fügt hinzu: „Der klinische Rahmen war genau das Richtige, denn so hatte Julia Abstand zum Alltag und Zeit für sich.“ Die Typ-1-Diabetikerin bestätigt: „Ich habe mich zum ersten Mal richtig verstanden und nicht als Versager gefühlt. Natürlich ist eine Therapie kein Kinderspiel, aber sie hat mir rückblickend das Leben gerettet.“
Diabetes und Depressionen
Studien zeigen, dass Menschen mit Diabetes etwa doppelt so häufig an Depressionen erkranken wie Nicht-Diabetiker. Doch auch umgekehrt scheint eine Wechselwirkung zu bestehen, denn Menschen, die an einer Depression leiden entwickeln häufiger einen Typ-2-Diabetes als Gesunde. Laut dem Diabetesinformationsdienst München leiden etwa zwölf Prozent aller Diabetiker an einer klinischen Depression und 18 Prozent an depressiven Stimmungen wie Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, Resignation oder Zukunftsangst. Jedoch blieben ungefähr fünfzig bis siebzig Prozent der Krankheitsfälle unentdeckt. Eine Diagnose ist für den Arzt oft nicht einfach, da Betroffene meist nur über Beschwerden wie Müdigkeit oder Schlaflosigkeit berichten, ohne emotionale Probleme anzusprechen. Damit eine Depression ausgeschlossen werden kann, ist ein gezieltes Nachfragen seitens des Arztes wichtig. Zudem besteht auch ein Zusammenhang zwischen Suchterkrankungen und Depressionen. Süchte können zu Depressionen führen, umgekehrt suchen Menschen mit Depressionen nicht selten einen Ausweg über Suchtmittel, um sich besser zu fühlen. Diabetiker schaden dabei ihrem Stoffwechsel auf gefährliche Art und Weise und haben infolgedessen häufiger mit Folgekomplikationen wie Durchblutungsstörungen des Gehirns, des Herzens, der Beine, der Augen und der Nieren zu kämpfen. Zudem kann eine Sucht dazu führen, dass die Therapie vernachlässigt wird.
Wenn die Angst zum ständigen Begleiter wird
Generell scheinen Angststörungen bei Diabetikern nicht häufiger vorzukommen als bei Nicht-Diabetikern. Jedoch gibt es diabetesspezifische Formen der Angst, beispielsweise die Angst vor Unterzuckerungen, Folgeschäden oder Insulinspritzen. Diese Phobien werden insbesondere dann gefährlich, wenn Betroffene hohe Blutzuckerwerte in Kauf nehmen, wie im Fall von Julia, wenn die Insulintherapie verweigert wird oder wenn andere Einschränkungen auftreten. Doch auch im sozialen Kontext können Ängste bei Menschen mit Diabetes auftreten. Einige Patienten vermeiden beispielsweise aus Schamgefühlen heraus, in der Öffentlichkeit zu messen oder sich zu spritzen. Auch der Faktor Essen und Gewicht darf nicht unbeachtet bleiben. Eine bekannte Essstörung bei Diabetikern ist das sogenannte „Insulin-Pruging“. Dabei spritzen Betroffene bewusst zu wenig oder gar kein Insulin. Die Blutzuckerwerte steigen und der Körper scheidet über den Urin vermehrt Glukose aus. Dies führt auf Dauer zu einer Gewichtsabnahme, jedoch hat Purging ernsthafte gesundheitliche Folgen für den gesamten Organismus. Im schlimmsten Fall kann diese Essstörung zu Organversagen und Tod führen.
Unterschiedliche Therapieansätze
Im Hinblick auf eine psychotherapeutische Behandlung bei Men- schen mit Diabetes ist es wichtig, dass die Therapeuten mit der Krankheit vertraut sind und die Zusammenhänge verstehen. Generell werden psychische Begleiterkrankungen bei Diabetes wie Depressionen, Süchte oder Ess- und Angststörung genauso behandelt wie bei stoffwechselgesunden Menschen. Hierbei können auch Psychopharmaka zum Einsatz kommen. Allerdings sollte dann eine engmaschige Stoffwechselkontrolle erfolgen. Substanzen wie trizyklische Antidepressiva können den Stoffwechsel verschlechtern. Sogenannte SSRI-Hemmer gelten als besser geeignet für Diabetiker. Sie hemmen die Wiederaufnahme des Hormons Serotonin. Jede medikamentöse Therapie sollte immer mit dem behandelnden Diabetologen besprochen werden. Studien belegen, dass sich bei Typ-2-Diabetikern die an Depressionen leiden, die kognitive Verhaltenstherapie bewährt hat. Auch mentales Training kann die Beschwerden lindern und infolgedessen die Stoffwechseleinstellung verbessern. Gegen zwanghafte Angst vor Unterzuckerung werden andere verhaltenstherapeutische Verfahren wie das Blutzucker- Wahrnehmungstraining angeboten. Da die Wartezeiten für einen ambulanten Therapieplatz oft sehr lange sind, sollte ein Klinikaufenthalt in Erwägung gezogen werden, wenn sich die psychische Erkrankung auf die Therapieführung auswirkt.