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Hormone verstehen

Die Endokrinologie betrifft den gesamten Körper und dessen Steuerung. Ein Hormonmangel oder -überschuss kann gravierende Folgen für die Betroffenen haben. Doch mögliche Störungen in dem komplexen System bleiben oft über Jahre hinweg unentdeckt. Dann ist der Einsatz von Spezialisten, aber auch von den Betroffenen selbst gefragt.

Die hormonproduzierenden Drüsen sind über den gesamten menschlichen Körper verteilt. Hierzu zählen die Hirnanhangdrüse und der Hypothalamus, welche die Schilddrüse, die Nebennieren und die Eierstöcke beziehungsweise Hoden steuern, die Bauchspeicheldrüse, die zum Beispiel für die Insulinproduktion verantwortlich ist und die Nebenschilddrüsen, welche den Kalziumhaushalt steuern. Diese klassischen Hormondrüsen stehen in einem unmittelbaren Kontakt und tauschen sich in einem Regelkreislauf kontinuierlich aus. Doch auch viele weitere Organe produzieren eine Vielzahl an Hormonen. Die Haut stellt beispielsweise eine Vorstufe des Vitamin D her. Das Fettgewebe produziert Leptin, was die Energiereserven an das Gehirn rückmeldet. Die Niere regt durch die Erythropoetinbildung die Blutbildung an und das Herz steuert über zahlreiche Hormone unter anderem den Salz- und Wasserhaushalt des Körpers. Auch die Knochen sind Teil des Hormonkreislaufs. Besonders wichtig für Diabetiker ist der hormonproduzierende Magen-Darm-Trakt (Gastrointestinaltrakt). Im Magen entsteht das appetitanregende Hormon Ghrelin. Im Darm werden viele „Gut Hormones“ gebildet, welche unter anderem die Magen-Darm-Passage steuern, die Insulinfreisetzung stimulieren oder dem Gehirn Sättigungsgefühl „melden“. Kurz: Die Signalübertragung über die chemischen Stoffe in unserem Körper ist ein enorm vielfältiges, komplexes und voneinander abhängiges System. Das wird vor allem dann deutlich, wenn der Hormonkreislauf gestört ist. Hormone beeinflussen praktisch alle Stoffwechselvorgänge im menschlichen Organismus, sie sind für die Entwicklung und Funktion der Organe verantwortlich und steuern diese. Sie sind aber auch an der Entstehung von Krebs beteiligt. Ab wann eine Stoffwechselkrankheit aufritt, ist dabei ganz unterschiedlich. Durch einen Gendefekt kann dies bereits ab der Geburt vorhanden sein. Es kann aber auch erst im Laufe des Lebens offenkundig werden. Auch Autoimmunprozesse sowie gut- und bösartige Tumoren, die meist erst mit steigendem Alter auftreten, können die menschlichen Hormondrüsen stören. Ein Risiko geht darüber hinaus von bestimmten Medikamenten, Operationen oder Strahleneinwirkung an den jeweiligen Organen aus, sodass die Hormonproduktion nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr funktioniert.

Stoffwechsel- und Hormonerkrankungen

So verwundert es nicht, dass Hormonstörungen für die teils verbreitetsten Volkskrankheiten verantwortlich sind:

• Diabetes mellitus

• Adipositas

• Bluthochdruck

• Osteoporose

• Schilddrüsenerkrankung

Allein von Diabetes ist knapp jeder zehnte Deutsche betroffen. Die Dunkelziffer liegt unweit höher, da die Medizin derzeit davon ausgeht, dass jeder zweite Diabetiker noch gar nichts von seiner Erkrankung oder dem Risiko weiß. Als adipös beziehungsweise krankhaft übergewichtig gelten Menschen mit einem BMI (Body-Mass-Index) von über 30. Insbesondere ab dem vierzigsten Lebensjahr kippt hier die Schere in der Bevölkerung. Die Folge: Es gibt mehr adipöse als normalgewichtige Menschen. Im Alter steigt dieser Anteil weiter an, sodass bei den über 70-Jährigen bereits drei von vier nicht mehr normalgewichtig sind.

Der Bluthochdruck gilt seit Jahren, so die aktuellen Zahlen der Krankenkassen, als die häufigste Krankheit. Rund 25 Prozent der Deutschen leiden an Bluthochdruck. Eine Osteoporose haben hierzulande schätzungsweise 5,2 Millionen Frauen und 1,1 Millionen Männer ab 50 Jahren.

Eine Behandlung ist nicht immer erforderlich

Zu den häufigsten Schilddrüsenerkrankungen zählen knotige Veränderungen (SD-Knoten), die vergrößerte Schilddrüse (Struma) sowie Funktionsstörungen. Bei knapp 40 Prozent der 40-Jährigen in Deutschland ist die Struktur der Schilddrüse knotig verändert – bei den 70-Jährigen sind es bereits 70 Prozent. Von gutartigen und meist harmlosen SD-Knoten muss der Schilddrüsenkrebs abgegrenzt werden, mit jährlich etwa 6000 Neuerkrankungen in Deutschland. Ein Struma liegt bei etwa jedem fünfte Erwachsenen in Deutschland vor. In der Gruppe der Schilddrüsenfunktionsstörungen, werden eine Unter- (zu wenig) oder Überfunktion (zu viel SD-Hormon) unterschieden. Für die Beurteilung der gesunden SD-Funktion spielt das Alter eine zentrale Rolle. Der Wert des Schilddrüsenhormons TSH (Thyreoidea stimulierendes Hormon) zeigt meist zuverlässig an, ob eine Schilddrüsenfunktionsstörung vorliegt. Bei Menschen über 65 Jahren ist er meist höher als bei Jüngeren. Für Erwachsene gilt ein TSH-Referenzbereich von etwa 0,4 bis 4,0 mU/l.

Erhöhte Werte sind nicht immer Grund einer Störung

Erhöhte Werte treten insgesamt häufig auf. Mediziner interpretieren sie oft automatisch als Schilddrüsenfunktionsstörung und ordnen sie als latente Unterfunktion ein. Doch nicht immer ist dies korrekt und nicht immer muss auch behandelt werden. Bei der Interpretation der Laborwerte sollte der behandelnde Arzt vielmehr den Faktor Alter, aber auch Symptome, Begleiterkrankungen und vor allem immer eine mögliche zugrundeliegende SD-Erkrankung in Betracht ziehen.

Vor allem bei der Prävention von Schilddrüsenerkrankungen ist ein differenzierter Blick nötig. Die Jodversorgung hat sich in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten verbessert, dennoch bleibt die Sicherstellung einer ausreichenden Jodversorgung ein wichtiges Thema, gerade auch in der Schwangerschaft und Stillzeit. Nicht alle Menschen sind für bestimmte Krankheiten empfänglich, zeigen also eine sogenannte genetische Prädisposition auf. Zudem gibt es seltene Schilddrüsenerkrankungen, die stark von Generation zu Generation in der Familie weitervererbt werden.

Dazu zählt zum Beispiel das bösartige medulläre Schilddrüsenkarzinom, eine seltene Form des Schilddrüsenkrebses. Hier liegt ein Gendefekt vor, der in rund jedem zweiten Fall weitervererbt wird. Wissen Eltern, dass bei ihnen oder den Kindern dieser Gendefekt vorliegt, empfehlen Referenzzentren wie beispielsweise das Endokrine Tumorzentrum am WTZ, die Kinder frühzeitig an der Schilddrüse zu operieren und hinsichtlich anderer Manifestationen der genetischen Erkrankung nachzusorgen.

Seltene Erkrankungen sind eine Herausforderung

Doch vor allem bei seltenen Stoffwechsel und Hormonerkrankungen stehen die Menschen vor einer riesigen Herausforderung. Beim Cushing-Syndrom, wobei die Nebenniere zu viel Cortisol produziert, oder beim unkontrollierten Ausstoß von Wachstumshormonen bei der Akromegalie haben die Betroffenen oft zahlreiche Arztwechsel und einen langen Leidensweg hinter sich. Die Betroffenen leben teilweise fünf bis zehn Jahre mit den Symptomen, bevor Ärzte eine Hormon- oder Stoffwechselstörung als Ursache ausmachen können. Ein Grund ist die hohe Komplexität des menschlichen Hormonsystems, das nahezu alle Vorgänge des Körpers steuert.

Auch für die Ärzte ist die Herausforderung an dieser Stelle enorm, erfordert die Diagnose einer Stoffwechselerkrankung doch eine ausgeprägte, fächerübergreifende Medizin. Ohne Netzwerke und auf seltene Krankheiten spezialisierte Referenzzentren wie beispielsweise die Endokrinologie an der Essener Universitätsklinik können die Betroffenen nur selten auf eine rasche Diagnose und anschließende Behandlung hoffen. Sie sind aber auch selbst gefragt: Bestehen die Beschwerden über Jahre hinweg, dürfen sie dennoch nicht aufgeben und müssen an der Diagnostik dranbleiben. Das Internet kann die Betroffenen zwar bei der Suche nach Symptomen und seltenen Krankheiten unterstützen. Ein unverzichtbarer Schritt bleibt jedoch, dass Ärzte die Menschen im Ganzen ansehen und hellhörig werden, wenn sich eine Vielzahl an Symptomen nicht den großen Volkserkrankungen zuordnen lässt. Hier braucht es einerseits Zeit, um den Patienten über einen längeren Zeitraum zu untersuchen. Andererseits die ganze Bandbreite der Diagnosemöglichkeiten, um ein umfassendes Krankheitsbild zusammenzustellen und den Menschen dabei in den Mittelpunkt zu rücken.