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Erholung auf Zeit

Kurz nach der Manifestation eines Typ-1- Diabetes erleben viele Patienten, dass der Insulinbedarf des Körpers wieder sinkt und die Hoffnung auf Heilung steigt. Doch die sogenannte Remissionsphase ist nur ein zeitlich begrenztes Phänomen.

Die Diagnose Diabetes fühlt sich für viele Betroffene und deren Angehörige zunächst völlig unwirklich an. Ein ganzes Leben lang Blutzucker messen und Insulin spritzen? Gibt es nicht vielleicht doch eine Möglichkeit der Heilung? Genau das dachten auch die Eltern von Sophie. Im Alter von 13 Jahren wurde bei ihr Typ-1-Diabetes festgestellt. „Nach der ersten Einstellung auf Insulin kam es sehr schnell zu dem Phänomen, dass meine Tochter plötzlich wieder weniger spritzen musste und die Werte sich normalisierten. Die BE-Faktoren sanken auf 0,3 bis 0,5 Einheiten pro Broteinheit“, erinnert sich Sophies Mutter. „Wir alle hofften darauf, dass sich die Ärzte geirrt hatten.“ Doch nach etwa sieben Wochen stiegen Sophies Werte wieder deutlich an und von nun an mussten die Insulindosen dauerhaft angepasst werden. „Anfangs habe ich gedacht, dass der Diabetes vielleicht doch heilbar ist und ich wieder gesund werde, aber mein Diabetologe hat mir dann erklärt, was gerade in meinem Körper passiert. Erst dann habe ich verstanden, dass ich ein Leben lang Insulin spritzen muss“, sagt Sophie und fügt hinzu: „Das ist immer mal wieder schwer für mich mit der Krankheit, aber ich bin froh, dass diese Erholungsphase eher kurz war und ich mich schnell an den Diabetes gewöhnt habe.“

Zeitlich begrenztes Phänomen

Wenn die Symptome einer Erkrankung zeitweise (oder in manchen Fällen auch dauerhaft) nachlassen, ohne dass die Krankheit selbst jedoch verschwindet, sprechen Ärzte von einer Remission. Bei Typ-1-Diabetikern ist diese Erholungsphase ein zeitlich begrenztes Phänomen. „Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung, bei der das körpereigene Immunsystem die insulinherstellenden Zellen angreift und zerstört. Das ist ein kontinuierlicher Prozess, der sich über einen gewissen Zeitraum erstreckt“, sagt Prof. Dr. med. Andreas Fritsche, Diabetologe und Inhaber des Lehrstuhls für Ernährungsmedizin und Prävention im Bereich Diabetologie des Universitätsklinikums Tübingen. Diabetes werde manifest, also erkennbar, wenn nur noch etwa zehn bis zwanzig Prozent der insulinproduzierenden Zellen intakt sind, woraufhin der Blutzucker ansteige. „Erhöhte Blutzuckerwerte stressen die insulinproduzierenden Zellen noch zusätzlich“, gibt der Experte zu bedenken. „Wenn jedoch die Therapie beginnt und der Blutzucker über die Insulinspritzen- oder -pumpentherapie gesenkt wird, dann erholen sich die restlichen zehn bis zwanzig Prozent der Zellen noch einmal ein wenig. Das nennen wir Remissionsphase.“

Gewöhnungsphase

Dieses Phänomen wird auch häufig als „Honeymoon-Phase“ bezeichnet. Mit Flitterwochen oder Spaß hat die Erholung der Beta- Zellen allerdings wenig zu tun. Auch bedeutet es keine wirkliche Auszeit vom Diabetes. Dennoch sieht Andreas Fritsche die Remissionsphase positiv: „Auch wenn sie irgendwann endet, kann sich der Patient in dieser Zeit an den Diabetes und die Therapieführung gewöhnen, da kleinere Therapiefehler vom Körper ausgeglichen werden.“ Gleichzeitig betont der Diabetologe aber, dass es wichtig sei, nichts zu beschönigen und appelliert auch an Eltern und Angehörige, mit ihren Kindern behutsam, aber ehrlich über den Diabetes als chronische Erkrankung zu reden und die Augen nicht vor der Realität zu verschließen. Unter Beachtung der Familien- und Gesprächssituation macht Andreas Fritsche Betroffenen bewusst, dass es sich eben um einen vorübergehenden Zustand handle.

Wochen oder Jahre

Wie lange die Remissionsphase dauert, hängt unter anderem davon ab, in welchem Alter der Diabetes auftritt. „Je jünger der Patient ist, wenn er Diabetes bekommt, desto kürzer dauert die Remission und je älter er ist, desto länger kann sie anhalten“, erklärt Andreas Fritsche. Im Gegensatz zur 13-jährigen Sophie, deren körpereigene Insulinproduktion schon wenige Wochen nach der Manifestation eingestellt war, dauerte die Re-missionsphase bei Bettina fast 18 Monate. Bei ihr w u r d e der Diabetes durch Zufall während einer Routineuntersuchung festgestellt. Zu Beginn der Remissionsphase unterzuckerte die Bürokauffrau immer wieder, bis die Insulinmenge auf wenige Einheiten Basalinsulin am Tag gesenkt wurde. „Selbst ein Schokoriegel zwischendurch wirkte sich plötzlich nicht mehr auf meinen Blutzuckerspiegel aus“, erinnert sie sich und fügt hinzu: „Doch vom einen auf den anderen Tag stieg mein Insulinbedarf rapide an und ich litt zunächst unter starken Blutzuckerschwankungen. Da mein Diabetologe mich aber rechtzeitig über das Phänomen aufgeklärt hatte, wusste ich, woran ich war und konnte mich auf die weitere Therapiefindung einlassen.“

Sinkende Insulinmengen

Während der Remissionsphase werden generell geringere Insulinmengen benötigt und kleinere Fehler bei der Essensberechnung machen sich nicht so schnell in Blutzuckeranstiegen bemerkbar, da die eigenen insulinproduzierenden Zellen, die noch vorhanden sind, einiges ausgleichen. „Oft reicht sogar eine Versorgung mit Basalinsulin aus“, so Andreas Fritsche. „In der Remission kann es also sein, dass gar kein oder eben nur wenig Bolusinsulin gespritzt werden muss.“ Wichtig sei es aber dennoch, weiterhin die Blutzuckerwerte und Insulingaben zu protokollieren, um den Verlauf der Remissionsphase einschätzen zu können. Während der gesamten Zeit solle weiterhin eine gute Anbindung an einen Diabetologen erhalten bleiben, selbst wenn alles von alleine zu laufen scheine. Andreas Fritsche sagt seinen Patienten, die in einer Remission stecken folgendes: „Wenn die Blutzuckerwerte plötzlich immer häufiger aus unerklärlichen Gründen erhöht sind, ist eine Therapieanpassung notwendig, denn mit dem Ende dieser Erholungsphase steigt der Insulinbedarf an. Hinzu kommt, dass die eine Broteinheit zu viel, die während der Remission keinen merkbaren Einfluss hatte, jetzt zusätzlich zu einem Blutzuckeranstieg führt.“ Sowohl das Basalinsulin, als auch die Essens- und Korrekturfaktoren müssen erhöht und auf die entsprechende Stoffwechsellage angepasst werden.

Rege Forschung rund um die Remission

Ein Bereich der Diabetesforschung ist die Erhaltung der körpereigenen Insulinproduktion mit dem Ziel, die Remission zu verlängern oder gar zu erreichen, dass Beta-Zellen wieder wachsen oder sich erholen. Denn selbst wenn nur ein Teil der Beta-Zellen erhalten bleiben könnten, hätte dieser Zustand Vorteile: „In der Regel haben Patienten in der Remission bessere Blutzuckerwerte, benötigen weniger Insulin, kleine Therapiefehler werden von den restlichen noch intakten Beta-Zellen ausgeglichen und die Unterzuckerungsgefahr ist reduziert“, sagt Andreas Fritsche und fügt hinzu: „Es gab verschiedene Ansätze, das Ende der Remission hinauszuzögern. Im Prinzip waren es die gleichen, die zur Prävention von Typ-1- Diabetes bei Risikopatienten ausprobiert wurden. Also beispielsweise auf Kuhmilch verzichten oder Vitamin- B-Präparate nehmen. Jedoch gibt es wissenschaftlich keine Hinweise, wie die Remissionsphase verlängert werden kann, außer durch die Insulintherapie selber.“ Das klingt zunächst widersprüchlich, denn in der Remission besteht unter Umständen gar kein weiterer Insulinbedarf. Der Blutzucker wäre auch ohne Insulingaben über Pen und Pumpe einigermaßen eingestellt. Dennoch empfiehlt der Diabetologe seinen Patienten auch während der Remission etwas Insulin zu spritzen: „Je besser der Blutzucker eingestellt ist, desto länger kann die eigene Insulinproduktion erhalten bleiben, da so verhindert wird, dass erhöhte Blutzuckerwerte die restlichen Beta-Zellen weiter stressen und somit zerstören.“

Dem Diabetes zuvorkommen

„Bisher waren leider jegliche Versuche in der Remission zu intervenieren erfolglos“, sagt Andreas Fritsche. „Wenn die Beta-Zellen einmal angegriffen sind, man könnte auch sagen, die Diabetes-Lawine im Rollen ist, dann scheint dieser Prozess nicht mehr aufzuhalten zu sein.“ Aus diesem Grund wird in eine weitere Richtung geforscht, und zwar Therapien mit immunmodulatorischen Medikamenten bereits anzufangen, bevor die Beta-Zellen angegriffen werden. Das bedeutet Menschen, die ein hohes Risiko aufweisen an Typ-1-Diabetes zu erkranken, rechtzeitig einer entsprechenden vorbeugenden Behandlung zu unterziehen. So unternimmt beispielsweise die Direktorin der International Diabetes Federation Univ.- Prof. Dr. med. Anette-Gabriele Ziegler am Helmholtzzentrum München diverse Studien zur Immunmodulation, um Diabetes zu verhindern oder die Remission zu verlängern, also die Restproduktion des körpereigenen Insulins zu erhalten. Dazu gehört unter anderem die sogenannte „DIABIL-2 Studie“ oder die „ABATACEPT-Studie“.

Nur eine Typ-1-Frage?

Typ-2-Diabetes ist keine Autoimmunerkrankung, deswegen wird hier das Wort Remission in einem anderen Zusammenhang benutzt. Anders als beim Typ 1 greift der Körper nicht die eigenen Beta-Zellen an, sondern die Zellen werden unempfindlicher gegenüber dem Hormon Insulin. Deswegen spricht man auch von einer Insulinresistenz. Gewisse Veränderung des Lebensstils (von der Bewegung bis hin zur Ernährung) können ausreichen, um den Krankheitsverlauf zu bremsen oder zu verzögern. Ebenso können sich die Blutzuckerwerte auch spontan nach einem chirurgischen Eingriff gegen Übergewicht, wie einer Magenverkleinerung, vorerst deutlich bessern. „Die Chirurgen sprechen dann von einer Remission“, sagt Andreas Fritsche.

Sonderfall Typ 3

Es gibt verschiedene Formen des Diabetes mellitus Typ 3. Der sogenannte pankreoprive Diabetes ist dabei die häufigste. „Pankreopriv“ bedeutet, dass die Bauchspeicheldrüse (Pankreas) aufgrund einer Schädigung nicht mehr ausreichend Insulin produzieren kann. So kann eine chronische Entzündung der Bauchspeicheldrüse (chronische Pankreatitis) zu einer massiven Gewebeschädigung führen und dadurch Diabetes Typ 3 verursachen. Ebenso kann eine operative Entfernung des Pankreasgewebes bei einem Tumorleiden durch den Gewebeverlust Diabetes Typ 3 mit Insulinmangel auslösen. „Im Falle einer Resektion, also einer operativen Entfernung, gibt es keine Remission“, erklärt Andreas Fritsche. „Denn wenn die Beta-Zellen operativ entfernt wurden, produziert der Körper auch kein eigenes Insulin mehr. Eine Ausnahme kann es bei einer Teilresektion der Bauchspeicheldrüse geben.“     

Kurze Auszeit – Bei einer Manifestation des Diabetes im Kindesalter dauert die Remissionsphase oft nur wenige Wochen oder Monate an.