Gesünder essen

Die Pizza-Formel

Nicht nur Kohlenhydrate, sondern auch Fett und Eiweiß können für einen mehr oder weniger starken Blutzuckeranstieg sorgen. Das Berechnen von speziellen Fett-Protein-Einheiten soll bei diesem Problem helfen.

Als ich die Diagnose Diabetes bekam, war ich sieben Jahre alt. In der Kinderklinik wurde ein spezieller Ess- und Spritzplan mit festen Kohlenhydratmengen für mich erstellt. Um 18 Uhr durfte ich drei und als Zwischenmahlzeit um 21 Uhr noch einmal eine Broteinheit essen. Meine Eltern stellten ihre Ernährung um und es wurde darauf geachtet, dass auch immer Lebensmittel ohne oder mit wenig Kohlenhydraten auf dem Tisch standen, damit ich mich satt essen konnte. Ich war zwar schon immer schlank, hatte aber eigentlich ständig Hunger, was wohl auch daran lag, dass ich ein ziemliches Energiebündel war. Meine erlaubten Broteinheiten pro Mahlzeit hatte ich schnell erreicht und so kam meine Mutter auf die Idee, mir abends eine Schüssel Magerquark mit Vanillearoma und Käsewürfel zu geben – sozusagen als kohlenhydratarmer Snack. Eingeschlafen bin ich meist mit guten Blutzuckerwerten, aber am nächsten Morgen kam immer öfter das böse Erwachen: Mein Blutzuckermeßgerät zeigte nicht selten Werte über 300 mg/dl (16,7 mmol/l) an.

Suche nach den Ursachen

Mein Diabetologe schaute sich meine Tagebücher an, in denen ich alle Werte protokollierte. Ich erinnere mich noch daran, dass er mich mit ernster Miene anschaute und ich mich ziemlich hilflos fühlte. Ich schämte mich dafür, dass mein Blutzucker solche Ausreisser machte, aber ich wusste einfach nicht, warum. Zunächst wurde die Menge des Basalinsulins verändert, als das nicht den gewünschten Erfolg brachte, auch der Injektionszeitpunkt. Zeitweise besserten sich die Nüchternblutzuckerwerte, dafür hatte ich dann allerdings am Vormittag in der Schule Unterzuckerungen. Was damals passierte, verstand ich erst Jahre später: Mit Anfang 20 bekam ich eine Insulin- pumpe. Dafür schickte mein Hausarzt mich zu Dr. Teupe nach Althausen. Der Diabetologe und Insulinpumpenspezialist leitete ein einzigartiges Projekt: Das Diabetiker Dorf. Dort wurde die Krankenhausatmosphäre gegen familiäres, alltagsnahes Ambiente getauscht. Man wohnte und kochte mit anderen Diabetikern zusammen und wurde dazu intensiv geschult. Neben der Theorie legte Dr. Teupe auch großen Wert auf praktische Schulungsinhalte. So spazierten wir beispielsweise durch die Natur, um zu lernen, wie sich Bewegung auf den Blutzuckerspiegel auswirkt. Das Highlight jeder Schulungsgruppe war allerdings das große Pizza- Essen.

Staunende Gesichter

Wer Menschen mit Diabetes oder deren Angehörige nach Erfahrungen mit Pizza fragt, wird sehr wahrscheinlich eine ganz persönliche Geschichte hören. Während sich Pizza aus der Tiefkühltruhe dank Nährwertangaben noch relativ gut berechnen lässt, wird der Restaurantbesuch beim Italiener schnell zum ungewollten Abenteuer, das einen unter Umständen die ganze Nacht wach hält. Ich selbst habe irgendwann als Kind beschlossen, keine Pizza mehr zu essen. Das hatte mehrere Gründe: Zum einen erlaubte mein Ernährungsplan keine großen Kohlenhydratmengen und ich wurde von einem Stück nicht satt. Zum anderen wurde Pizza in den Schulungen schon immer als „schwer zu berechnen“ angepriesen und so eher zu etwas, um das man einen Bogen macht. So kam es, dass ich mit Anfang 20 plötzlich mit einer Gruppe anderer Diabetiker an einem Tisch saß und nicht schlecht staunte, als wir gemeinsam die Menge des Bolusinsulins für die Pizza berechneten. Schon Tage vorher hatten wir in der Schulung intensiv über das Thema Fett und Eiweiß gesprochen. Nicht nur für mich, sondern für die meisten der Anwesenden war es völlig neu, dass nicht mehr nur Kohlenhydrate eine Rolle bei der Berechnung des Insulins spielten.

Neue Einheit

Die Annahme, dass Fette und Proteine Einfluss auf die Blutglukose nehmen, kam bereits in den 1980er Jahren auf. Doch trotz einiger Studien schienen die neuen Erkenntnisse lange wenig Aufmerksamkeit zu bekommen. Auch wenn einzelne Diabetologen, wie Dr. Teupe, das Thema schon früh zu einem wichtigen Inhalt ihrer Schulungen machten, brachte erst die kontinuierliche Glukosemessung einen wirklichen Wandel. Plötzlich ließen die Datenmengen keine andere Interpretation zu und lieferten die Beweise, dass eben doch nicht nur Kohlenhydrate zählen. Fette und Proteine sind zwar keine Kohlenhydrate und haben damit keine unmittelbare Wirkung auf den Blutzuckerspiegel, aber auch sie sind „glukogen“ – können also vom Körper in Glukose umgewandelt werden, wenn auch verzögert. Der Anteil, den Eiweiß und Fett in der Mahlzeit ausmachen, wird als „Fett-Protein-Einheit“ oder kurz FPE angegeben. Dieser Begriff wurde erstmals im Jahre 2003 von Ewa Pankowska geprägt. Demnach entsprechen 100 Kilokalorien aus Fett beziehungsweise Eiweiß einer FPE. Normalerweise ist der Anteil an Fett und Eiweiß bei einer ausgewogenen Ernährung so moderat, dass deren glukogener Effekt in der Regel durch Basalinsulin und Bolus abgedeckt wird. Das heißt jedoch nicht, dass sie nie eine Rolle spielen.

Gewohnheiten und Ausnahmen

Die meisten Menschen haben mehr oder weniger feste Ernährungsgewohnheiten. Das betrifft auch die Zusammensetzung der Mahlzeiten. Um die eigene Ernährung besser einschätzen zu können, lohnt es sich, eine gewisse Zeit lang genau Protokoll zu führen. Schreiben Sie auf, was Sie essen und notieren Sie neben der Kohlenhydratmenge auch die Menge an Fett und Eiweiß in Gramm. Dazu können Sie auch Nährwertrechner im Internet oder spezielle Apps nutzen. Achten Sie darauf, nicht nur Wochentage zu wählen, sondern zum Beispiel auch den Brunch oder das Abendessen am Wochenende. Immer wenn der Anteil von Fett und Eiweiß im Verhältnis zu den Kohlenhydraten recht hoch ist, wirkt sich das stärker auf den Stoffwechsel aus. Meist ist dieser starke Überschuss eine Ausnahme. Allerdings gibt es auch fett- und proteinlastige Diäten oder Ernährungsweisen, die eine dauerhafte Berechnung des Fett- Eiweiß-Anteils verlangen, um ungewollte Blutzuckerspitzen zu vermeiden. Bei Lebensmitteln, die nur Fett und Eiweiß enthalten, zum Beispiel einem Steak, lassen sich die FPE einfach berechnen. Dazu wird deren Kaloriengehalt durch hundert geteilt. Enthält das Essen jedoch auch Kohlenhydrate, muss zunächst deren Kaloriengehalt vom Gesamtkaloriengehalt abgezogen werden, bevor durch hundert geteilt werden kann.

Individueller Insulinbedarf

Da jeder Mensch einen individuellen Insulinbedarf hat, gibt es keine pauschal gültigen Angaben für die Insulinmenge einer FPE. Viele Experten empfehlen, sich langsam an die optimale Dosis heranzutasten und zu Beginn für eine FPE nur halb so viel Insulin zu veranschlagen wie für eine Broteinheit (BE) beziehungsweise eine Kohlenhydrateinheit (KE). So könne einer möglichen Unterzuckerung vorgebeugt werden. Vor allem bei späten Mahlzeiten und hohen Insulinmengen zur Nacht sollte nichts riskiert werden. Zudem spielt nicht selten auch noch Alkohol eine Rolle, der das Hypoglykämie-Risiko nach einigen Stunden zusätzlich erhöht und in der Nacht zu schweren Verläufen führen kann. Da Fett und Eiweiß den Blutzucker zeitverzögert ansteigen lässt, sollte für die FPEs ein verzögerter Bolus eingesetzt werden. Insulinpumpen bieten die Möglichkeit, eine gewisse Insulindosis über einen bestimmten Zeitraum abzugeben. Dabei ist die jeweilige Dauer von der Menge der FPE abhängig, denn je mehr Fett und Eiweiß das Essen enthält, desto länger wirkt sich dieser Anteil auf den Blutzucker aus. Zum Pizza-Essen eignet sich der sogenannte duale Bolus: Der Anteil für die KE oder BE wird direkt abgegeben und der Anteil für die FPEs mit Verzögerung. Bei einer Therapie mit Spritze oder Pen ist das Einbauen der Verzögerung zwar schwierig, aber nicht unmöglich. So können kleinere FPEMengen mit Normalinsulin und größere mit Langzeitinsulin abgedeckt werden. Auch hier ist die Abstimmung mit dem Diabetologen und ein langsames Herantasten gefragt.

Übung macht den Meister

Zugegeben, so eine Pizza kann eine Herausforderung sein und die meisten Diabetiker werden einige Versuche brauchen, um den Blutzucker im gewünschten Normbereich zu halten. Gehen Sie mit etwas Vorsicht, aber auch mit Spass an die Sache. Sehen Sie die Restaurantbesuche als Übung. Ich erinnere mich nämlich nicht nur an staunende Blicke vor dem Essen, sondern auch an das zufriedene Lächeln und die Gespräche in der Gruppe am nächsten Tag. Plötzlich war der Blutzucker kein unzähmbares Pferd mehr, sondern eine zu berechnende Größe. Das gibt Selbstvertrauen und Mut, genau so weiterzumachen


BERECHNUNG DER FPE:

(Fett in g x 9) + (Protein in g x 4) = Gesamtkalorien aus Fett und Protein
Diese Gesamtkalorien aus Fett und Protein geteilt durch 100 ergeben die FPE