Besser Messen

Mehr Stabilität

Erst rast der Blutzucker in den Keller, anschließend schnellt er scheinbar unaufhaltsam in die Höhe solche Schwankungen können verschiedene Ursachen haben. So beugen Sie dem Auf und Ab vor und bringen mehr Stabilität in Ihr Diabetesmanagement.

Mitten in der Nacht wacht Jan Wehmeyer schweißgebadet auf. Er greift mit zitternden Händen zu seinem Blutzuckermessgerät, das auf seinem Nachttischschrank liegt. Kurze Zeit später liest er das Ergebnis ab: 56 mg/dl (3,1 mmol/l). Solche Situationen erlebte der 34-jährige Typ-1-Diabetiker im vergangenen Jahr häufiger. Doch wie kam es zu den nächtlichen Unterzuckerungen? „Ich treibe meist nach der Arbeit Sport. Aufgrund des Lockdowns habe ich mir angewöhnt, abends eine größere Runde zu joggen. Um mich fit zu halten und um den Kopf frei zu bekommen. Dadurch habe ich mich deutlich mehr bewegt als vor der Pandemie“, erinnert sich Jan Wehmeyer, dessen Blutzucker dadurch aus dem Gleichgewicht geriet. Das lag nicht nur an der Bewegung, sondern auch an den neuen Essgewohnheiten: „Nach dem Training steht bei mir Kochen und Abendessen auf dem Programm. Meist habe ich dann großen Hunger.“ Seitdem er so viel Sport treibt, isst der Sozialpädagoge am Abend etwa drei bis vier Broteinheiten mehr. Anfangs berechnete Jan Wehmeyer seine Mahlzeiten ganz normal wie immer und verabreichte sich die entsprechende Menge Insulin über seine Insulinpumpe. Doch als sich die Unterzuckerungen in der Nacht häuften, suchte er Hilfe bei seinem Diabetologen.

Nach dem Tief das Hoch

„Für mich waren nicht nur Talfahrten meines Blutzuckers eine echte Belastung, sondern auch die darauffolgenden hohen Werte am nächsten Morgen“, sagt Jan Wehmeyer. Neben seinem Bett liegt seitdem ausreichend Traubenzucker bereit. Da die nächtlichen Unterzuckerungen jedoch mit starken körperlichen Symptomen einhergingen und der Typ-1-Diabetiker lieber auf Nummer sicher gehen wollte, nahm er meist mehr Notfall- BEs als nötig zu sich. Nicht selten zeigte sein Blutzuckermessgerät morgens Werte über 250 mg/dl (13,9 mmol/l) an. „Für mich war es schwer, mit der Situation in der Nacht umzugehen und die Power der Unterzuckerung richtig einzuschätzen“, betont Jan Wehmeyer. „Mein Diabetologe erklärte mir dann aber, dass die hohen Blutzuckerwerte auch Folge einer Gegenregulation sein können.“ Bei Werten unter 70 mg/dl (3,9 mmol/l) kann es zu einer Leberzuckerfreisetzung und einer anschließenden posthypoglykämischen Insulinresistenz kommen. Das heißt der Blutzucker steigt nach der Unterzuckerung deutlich an und der Körper reagiert anschließend weniger sensibel auf Insulin. In so einem Fall ist es schwierig, den Blutzucker mit den gewohnten Korrekturmaßnahmen wieder in den grünen Bereich zu bringen und es sind unter Umständen höhere Insulinmengen nötig.

Die richtigen Schrauben drehen

Um Blutzuckerschwankungen vorzubeugen und die Lage zu stabilisieren sollte immer nach möglichen Ursachen gesucht werden. Wer versteht, warum es zu solchen Schaukelpärchen kommt, kann sein Diabetesmanagement optimieren. Für Jan Wehmeyer war der entscheidende Punkt die Basalrate sowie die BE- und Korrekturfaktoren entsprechend anzupassen. „Da ich eigentlich einen relativ regelmäßigen Tagesablauf habe und sich nur die Intensität und Häufigkeit der Bewegung geändert hat, war es relativ leicht, die richtigen Schrauben zu drehen“, erklärt der Typ-1-Diabetiker. Um größere Insulinmengen kurz vor dem Zubettgehen und nach vermehrter Anstrengung zu vermeiden, hat er seine Hauptmahlzeit auf den Mittag gelegt. Vor dem Sport gibt es ein bis zwei zusätzliche BEs, zum Beispiel einen Müsliriegel oder einen Sportdrink. „Zusätzlich messe ich kurz vor dem Einschlafen meinen Blutzucker. Liegt dieser unter 140 mg/dl (7,8 mmol/l), dann esse ich noch einmal ein bis zwei zusätzliche BEs, um Unterzuckerungen in der Nacht vorzubeugen“, sagt Jan Weymeyer und fügt hinzu: „So kann ich beruhigt einschlafen und meine Blutzuckerwerte bleiben in der Nacht stabil. Ich habe mit meinem Diabetologen außerdem über ein System zur kontinuierlichen Glukosemessung gesprochen. Das wird mir mein Diabetesmanagement bestimmt noch einmal erleichtern.“    

Schaukelpärchen

Der Diabetologe Dr. Bernhard Teupe aus Bad Mergentheim hat in seinem Buch „Die Logik meines Diabetes“ den Begriff der Schaukelpärchen geprägt. Er beschreibt typische Situationen, in denen es zunächst zu einem Absinken des Blutzuckers unter 70 mg/dl (3,9 mmol/l) und anschließend in einem Zeitraum von einer halben bis hin zu fünf Stunden zu einem Anstieg des Blutzuckers über 140 mg/dl (7,8 mmol/l) kommt. In der Realität sind die Ausreißer nach oben häufig meist deutlich höher als dieser Grenzwert.

1. Zwei voneinander unabhängige Ereignisse

Nach einer Unterzuckerung kommt es zu einer Überzuckerung. Beides sind jedoch voneinander unabhängige Ereignisse. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn zum Mittagessen zu viel Insulin gespritzt wurde (wodurch der Blutzucker zu stark abfällt) und anschließend zur Zwischenmahlzeit am Nachmittag zu wenig Insulin abgegeben wurde (wodurch der Blutzucker nach dem Essen ansteigt). Diese beiden Ereignisse haben keinen direkten Bezug zueinander, sie treten einfach zeitlich aufeinanderfolgend auf. Um die Ursache zu beheben, müssten unter anderem das Berechnen der Mahlzeiten und die Mahlzeitensowie Korrekturfaktoren optimiert werden. Doppelfehler kommen nicht nur bei kombinierten Insulinierungsfehlern, sondern auch bei Verhaltens- und Technikfehlern (Fehldosierung und dann ein undichter Katheter) sowie bei Anpassungsfehlern (Bagatellbelastung ohne Anpassung der Insulinmenge und dann Diätfehler) vor. Typische Beispiele sind auch Sauna- oder Schwimmbadbesuche in denen noch aktive Bolusgaben zu einer Unterzuckerung führen können und das Abnehmen der Insulinpumpe als zweites Ereignis einen Insulinmangel auslöst, der wiederum den Blutzucker nach einer Weile in die Höhe schnellen lässt.

2. Handhabungsund Technikfehler Menschen mit Diabetes sind auf Technik angewiesen.

Der Umgang damit ist nicht immer fehlerfrei und auch Gerätefehler können Probleme in Bezug auf das Diabetesmanagement provozieren. Messfehler können diverse Ursachen haben. Nicht selten führen Verunreinigungen an den Fingerkuppen bei blutigen Messungen zu fehlerhaften Ergebnissen. Typisch: Nach einer Unterzuckerung befindet sich noch Traubenzucker an den Fingern. Bei der Kontrollmessung zeigt das Blutzuckermessgerät plötzlich einen stark erhöhten Wert an. Daher ist gründliches Händewaschen vor jeder Messung so wichtig. Zudem sollten Sie auch auf Ihr persönliches Körpergefühl hören: Fühlen Sie sich zittrig und Ihr Messgerät zeigt keine Unterzuckerung an? Oder zeigt das Display einen niedrigen Blutzuckerwert an und Sie sind sich sicher, dass das nicht sein kann? Dann führen Sie eine zweite Messung durch, bei der Sie ganz genau auf die korrekte Durchführung achten. Auch die Außentemperatur kann zu Messfehlern führen. Daher sollten Sie Ihr Blutzuckermessgerät und andere Diabetesutensilien vor Temperaturschwankungen und Hitze sowie Kälte schützen. Kalt-Warm-KaltÜbergänge können sich vor allem bei insulinempfindlichen Menschen stärker auswirken, besonders bei einer Insulinpumpe und einer vollen Insulinampulle. Wenn Sie zum Beispiel in der kalten Jahreszeit spazieren gehen und Ihre Pumpe am Hosenbund tragen und anschließend in einen warmen Raum gehen, ist das Insulin einer extremen Temperaturschwankung ausgesetzt. Verlassen Sie sich generell nicht blind auf die Technik sondern ordnen Sie den Blutzuckerwert stets noch einmal in die jeweilige Situation ein.

3. Zu viele Broteinheiten nach einer Hypoglykämie

Wenn der Blutzucker in den Keller schießt, essen Betroffene oft mehr Notfall-BEs als eigentlich nötig. Das kann zu Blutzuckerschwankungen führen. Eine Unterzuckerung ist kein Spaziergang und kann sowohl mit deutlichen körperlichen und psychischen Symptomen als auch mit Ängsten einhergehen. In solch einem Moment ist es nicht immer einfach, die Power der Hypoglykämie einzuschätzen – das heißt wie viele BEs nötig sind, um den Blutzucker wieder in den Normalbereich zu bringen. Besonders bei starken Symptomen beziehungsweise sehr niedrigen Werten nehmen Betroffen häufig zu viele Notfall- BEs zu sich. Dann wird einfach gegessen und getrunken, was gerade da ist, bis sie sich besser fühlen. Wie schnell die Unterzuckerungssymptome nachlassen ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Zudem steigt der Blutzucker nicht unmittelbar nach der Nahrungsaufnahme. Daher kommt es nicht selten nach einer Hypoglykämie zu hohen Blutzuckerwerten. Das Thema Unterzuckerungen sollte in jedem Fall mit dem Diabetologen intensiv besprochen werden. Wenn Sie verstehen, warum es zum Absinken des Blutzuckers kommt und wie Sie die Power einer Unterzuckerung einschätzen können, dann lassen sich nicht nur Hypos, sondern auch solche Schaukelpärchen in Zukunft besser vermeiden. Führen Sie in jedem Fall nach einer Unterzuckerung noch mal eine oder mehrere Kontrollmessungen durch, je nach Verlauf des Blutzuckers und geben Sie sich gegebenenfalls eine entsprechende Menge Korrekturinsulin. Korrigieren Sie aber nicht zu streng, sonst kann die Berg- und Talfahrt anhalten. Ihr Ziel sollte stets ein stabiler Blutzuckerspiegel sein.

4. Zu großer Insulinentzug bei einer Hypoglykämie

Kommt es nach einer Unterzuckerung zu einem Insulinentzug, dann steigen die Blutzuckerwerte in Folge dessen häufig an. Durch die kontinuierliche Glukosemessung und den technischen Fortschritt der Insulinpumpen besteht die Möglichkeit durch ein Eingreifen in die Basalrate Unterzuckerungen vorzubeugen beziehungsweise dessen Power zu reduzieren. Manche Systeme machen das bereits automatisch. Die Basalrate wird gestoppt bis die Blutzuckerwerte wieder im Normalbereich sind. Die Dauer des Insulinentzugs hängt vom jeweiligen Verlauf der Unterzuckerung ab. Eine andere typische Situation: Wenn Kinder unterzuckern und Eltern das Basalinsulin reduzieren oder sogar bestimmte Insulingaben ausfallen lassen. Solch ein Insulinentzug kann Folgen haben und im Anschluss zu steigenden Blutzuckerwerten führen. Diese lassen sich dann gegebenenfalls nicht mehr mit den gewohnten Mengen an Korrekturinsulin in den grünen Bereich bringen, da die Insulinempfindlichkeit sinkt. Wie stark sich der Insulinentzug auswirkt hängt nicht nur von dessen Dauer sondern unter anderem auch von dem verwendeten Insulin und Faktoren wie Bewegung oder Menge der Notfall- BEs ab. Generell ist es wichtig, dass gemeinsam mit dem Diabetologen eine passende Basalrate als Grundlage der Diabetestherapie gefunden wird und Insulinentzug nicht als dauerhafte Lösung angesehen wird.

5. Fehlerhafte Essens- Insulinieriung

Brunch, Pizza und Co. stellen an Menschen mit Diabetes besondere Herausforderungen und die Insulingaben müssen anders berechnet werden, als bei herkömmlichen Mahlzeiten. Bei fehlerhafter Essens-Insulinierung kann es zu Blutzuckerschwankungen kommen. Sie sind zum Brunch eingeladen. Ihr Blutzucker ist im Normbereich, Sie geben sich Insulin für fünf BEs und beginnen mit der ersten Runde: Es gibt etwas frisches Obst, Lachs und etwas Schwarzbrot mit Frischkäse. Eigentlich hatten Sie vor, direkt im Anschluss eine zweite Portion zu essen, doch Sie sind zu vertieft in das Gespräch mit Freunden. Erst als Sie merken, dass Ihnen schwindelig wird, fällt Ihnen wieder ein, dass Sie für fünf BEs gespritzt haben. Zu spät – Ihr Blutzucker ist schon im Keller. Nun bedienen Sie sich beim Nachtisch am Buffet. Sie wollen Ihren Blutzucker möglichst schnell wieder korrigieren und berechnen nicht genau, was Sie essen. Eine Stunde später ist das Gegenteil der Fall: Das Blutzuckermessgerät zeigt einen Wert von 275 mg/dl (15,3 mmol/l). Nicht alle Mahlzeiten können einfach mit einem normalen, unverzögerten Bolus, der vor dem Essen gegeben wird, insuliniert werden. Um einen möglichst guten, stabilen Blutzuckerverlauf zu erreichen, sollten Sie sich bewusst sein, dass es Ausnahmesituationen gibt, in denen spezielle Regeln gelten. Dazu zählen neben dem Brunch oder anderen verlängerten Essenssituationen auch stark fetteiweißhaltige Lebensmittel beziehungsweise Mahlzeiten sowie langsame BEs mit einem sehr niedrigen glykämischen Index. Neben einer sofortigen Insulingabe ist auch eine bestimmte Menge an verzögertem Insulin nötig. Besprechen Sie solche Sondersituationen ebenfalls mit Ihrem Diabetologen beziehungsweise Ihrem Diabetesteam.

6. Fehlerhafte Sportanpassung und Bagatellbelastung

Körperliche Bewegung kann auf unterschiedliche Art zu Blutzuckerschwankungen führen. Daher ist unter anderem eine gute Sportanpassung wichtig. Das Beispiel von Jan Wehmeyer zeigt, wie sich Sport auf den Blutzuckerspiegel auswirken kann. Im Alltag führt jedoch auch nicht selten eine Bagatellbelastung zu Unterzuckerungen: Das kann die Arbeit im Garten oder der Spaziergang mit dem Hund sein. Wenn die Basalrate zu hoch ist beziehungsweise keine zusätzlichen BEs gegessen werden, droht der Blutzucker in den Keller zu rasen. Wird die Basalrate jedoch zu stark reduziert oder erfolgt eine zeitlich zu lange und zu starke Reduktion des Basalinsulins, kann das wiederum zu erhöhten Blutzuckerwerten führen. In Bezug auf die Basalrate ist sozusagen Fingerspitzengefühl gefragt. Sie sollten nicht auf eigene Faust immer wieder Änderungen durchführen. Es braucht ein wenig Erfahrung, Sport und Bagatellbelastungen richtig einzuschätzen und den Blutzucker stabil zu halten. Lassen Sie sich von Schwankungen nicht herunterziehen, sondern sehen Sie das Ganze als Motivation, wieder mehr Kontrolle über Ihren Blutzucker.